Sonntag, 8. Januar 2006
Das Guiness-Buch der Rekorde
Als ich zehn oder elf Jahre alt war, da schenkte mir mein Vater einmal das Guiness-Buch der Rekorde. Orangefarben war es und allerlei Absonderlichkeiten standen darin: Der längste Ortsname, der kleinste Hund und der größte Kürbis. Vom Mann mit den längsten Fingernägeln und der Frau mit den längsten Haaren gab es sogar Bilder.
Was mein Vater jedoch nicht ahnte – und bis heute nicht weiß –, ist, dass dieses Buch auch eine heimliche Angst auslöste. Im Guiness-Buch stand nämlich ebenfalls, wie lange der längste Schluckauf angehalten hatte. Seither fürchte ich insgeheim immer, ich könnte diesen Rekord brechen, wenn ich ich den ersten Hickser verspüre.
Bei dem unglücklichen Mann hatte das schließlich auch ganz harmlos angefangen.

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Samstag, 3. Dezember 2005
Alice vor den Spiegeln

I mean, she said, that one can’t help growing older.
ONE can’t perhaps, said Humpty Dumpty, but TWO can.
- Lewis Carroll: Through the Looking-Glass (deutsch: Alice hinter den Spiegeln) -


An den Moment erinnere ich mich noch genau, nicht aber daran, welcher Tag es war, als ich mir zum ersten Mal fremd im Spiegel wurde. Das Gesicht, das mir entgegenblickte, war zwar zweifellos meines, aber irgendetwas stimmte nicht und ließ mich anders aussehen, ohne dass ich hätte sagen können, was es war. Jedenfalls war das nicht mein Gesicht wie ich es kannte, und jedes Mal, wenn ich meinem Spiegelbild begegnete, war es mir von neuem fremd.
Einen Tag brauchte ich, bis ich die Ursache herausfand, drei weitere Tage sollte es dauern, bis ich mich daran gewöhnte. Kaum wahrnehmbar war sie, ich hatte ja selbst sehr lange und sehr genau hinschauen müssen, um sie zu entdecken: Die allererste winzigkleine Falte unter dem Auge.
Ich glaube, das war in meinem 31. Jahr. Ich erinnere mich auch noch daran, dass ich, nachdem ich sie entdeckt hatte, dachte: Jeder, der Dich jetzt noch kennen lernt, wird Dich nur noch so kennen. Er wird nicht wissen, wie Du vorher ausgesehen hast. Und das war im ersten Moment ein eigenartiges Gefühl.

Vier Monate später sagte eines Abends die liebe Freundin, die um genau jene Zeitspanne jünger ist als ich, plötzlich zu mir:
Neulich stand ich vorm Spiegel und war mir auf einmal so fremd.
Ich lachte leise und entgegnete:
Es hat einen Tag gedauert, bis Du herausgefunden hast, wieso. Und drei weitere Tage, bis Du Dich daran gewöhnt hast, nicht wahr?
Für einen kurzen Moment verblüfft, schaute sie mich an.
In mir, raunte ich mit übertriebener Grabesstimme, hast Du Deinen eigenen Verfall vor Augen. Schließlich bin ich Dir vier Monate voraus.
Da lachte sie sehr und sagte mit gespielter Theatralik:
Aber um den Zustand absoluter Makellosigkeit, keinen einzigen Pickel mehr und noch keine Falte zu haben, um den hat man mich irgendwie betrogen.

Von Zeit zu Zeit werde ich mir immer wieder einmal fremd im Spiegel. Es irritiert mich nicht mehr so, ich kenne ich ja nun den Grund. Doch noch immer dauert es drei Tage, bis mir das veränderte Gesicht vertraut wird. Weil es stimmt, was der Pianist Menahem Pressler, Gründer des Beaux Arts Trios, ein halbes Jahr vor seinem 75. Geburtstag einmal zu mir gesagt hat: "Man vergisst leicht das eigene Alter, wenn man nicht in den Spiegel sieht. Denn das Herz ist ziemlich jung."

Die Lange Nacht über das Alter, heute im Deutschlandfunk, 23.05 bis 2.00 Uhr.

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Dienstag, 15. November 2005
Let it bleed
Das lästige am Nasenbluten ist, dass es meistens so ungelegen kommt, dann, wenn ich gerade gar keine Zeit für so etwas habe oder todmüde bin. Statt also schnurstracks ins Bett zu gehen, stehe ich seit einigen Nächten eine halbe Stunde am Waschbecken, und es hört und hört nicht auf. Ahh, bleed it alright, bleed it alright, bleed it alright. Heute zur Abwechslung einmal wieder stereo, wie originell, haha. Und morgen darf ich dann das Bad putzen.

Als hätte ich es nicht auch so schon längst verstanden.

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Montag, 14. November 2005
Wir könnten
Am nächsten Tag war dieser Text da, schrieb La Chouette neulich, ihr Text ist schon seit ein paar Tagen da.

Cocorosie lief im Hintergrund und ich hatte mich auf den Boden gesetzt und plötzlich tropfte es und ich dachte, wenn ich schon einmal angefangen habe, dann aber richtig.

Und wie sie losgelegt hat ... und das Ende erst.

Ich für meinen Teil bin mir manchmal gar nicht so sicher, ob mein Herz überhaupt noch mit mir redet.

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Mittwoch, 5. Oktober 2005
Halbe Treppe
Draußen auf der Fensterbank steht die Tasse, die sie als Aschenbecher benutzen. Jedesmal, wenn ich auf dem Treppenabsatz daran vorbeigehe, wandert mein Blick dorthin. Sie leeren sie selten, ihre Kippen liegen noch darin.
Am Dienstag kommt der Kollege, der ihr am Schreibtisch gegenüber gesessen und oft mit ihr dort gestanden und geraucht hat, aus den Flitterwochen zurück. Er weiß es noch nicht. Sie wird in ihrer Heimat beigesetzt, wir können nicht einmal zur Trauerfeier gehen und uns auf diese Weise verabschieden.

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Samstag, 1. Oktober 2005
She's not here anymore
Wann wird es sein, dass ich unten zur Tür hereinkomme und nicht mehr erwarte, dass sie oben auf dem Treppenabsatz steht und eine raucht?

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Mittwoch, 28. September 2005
Paint it black
Sie sei so müde, hatte Katja mir am Donnerstag noch erzählt, als ich mit ihr draußen im Hausflur stand, während sie eine Zigarette rauchte. Sie hatte in den vergangenen zwei Wochen einfach zu viel gearbeitet und freute sich schon aufs Wochenende. Am Freitag klagte sie kurz bei einer anderen Kollegin über Sehstörungen. Irgendetwas mache sie wohl in ihrem Leben verkehrt, sagte sie noch, weil es wieder einmal spät geworden war. Sie würde auch gern einmal lange um die Welt reisen. Am Montag ist sie dann nicht zur Arbeit erschienen, sämtliche Anrufe und Short Messages gingen ins Leere. "Als sie am Montag nicht kam", sagte mir die Kollegin heute, "da dachte ich noch für einen Moment, jetzt hat sie es wahrgemacht. Hat alles stehen und liegen lassen und ist aufgebrochen zur langen Reise um die Welt."

Katjas Freund ist am Sonntagabend beim Vermieter gewesen, der im selben Haus wohnt. Als er in die Wohnung zurückkehrte, lag Katja tot im Badezimmer.

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Sonntag, 28. August 2005
Sing for absolution

Our wrongs remain unrectified
and our souls won't be exhumed.

- Muse: Sing for absolution -

Immer dann, wenn eine Liebe zu Ende und wir auseinander gegangen waren, sammelte ich Briefe, Geschenke, Fotos und all die kleinen sentimental nothings ein und legte sie in einen bunten Karton, damit mein Blick nicht dauernd daran hängen bliebe. Warum sich noch mehr quälen, es war eh schon traurig genug. Ganz davon trennen konnte ich mich aber auch nicht. Den Karton stellte ich dann auf den Schrank neben die anderen. Anfangs holte ich noch ab und an etwas heraus, um es zu betrachten, aber auch das ging vorbei, und so standen die Schachteln unbeachtet herum, fingen Staub.
In jüngster Zeit jedoch wanderte mein Blick häufiger nach oben, mehr und mehr störte mich ihr Dasein. Heute habe ich sie heruntergeholt und nach all den Jahren wieder hineingeschaut. Es gab Briefe, die haben mich auch jetzt noch berührt und gefreut, einige mich - erneut - traurig gemacht. Manche ließen mich kalt, manche mochte ich gar nicht mehr lesen, egal, ob sie von dem Mann oder mir stammten. Our wrongs remain unrectified.
Dann nahm ich die Briefe und ging hinaus.

Als die Flammen höher schlugen, habe ich leise gesungen.

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Dienstag, 23. August 2005
Die schönen Rosen
Na, dann eben nicht.

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Mittwoch, 17. August 2005
War Baby

All this stabbing and wounding - only getting my own back
I don't want to batter you to your feet and knees and elbows.

- Tom Robinson: War Baby -

Sein erster Biss erwischt mich unverhofft am Schlüsselbein und raubt mir den Atem. Ich spüre, wie mir das Blut zwischen den Brüsten hinunter läuft, doch ich gebe keinen Laut von mir, stelle nur den Kragen hoch. Sein zweiter Biss gilt meiner Schulter. Zischend ziehe ich die Luft zwischen den Zähnen ein, verberge meinen Arm, damit er nicht sieht, wie das Blut daran heruntertropft.
Er sieht immer nur mein Lächeln, meine Fangzähne bemerkt er nicht.

Mein Biss wäre tödlich.

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