Samstag, 3. Dezember 2005
Alice vor den Spiegeln

I mean, she said, that one can’t help growing older.
ONE can’t perhaps, said Humpty Dumpty, but TWO can.
- Lewis Carroll: Through the Looking-Glass (deutsch: Alice hinter den Spiegeln) -


An den Moment erinnere ich mich noch genau, nicht aber daran, welcher Tag es war, als ich mir zum ersten Mal fremd im Spiegel wurde. Das Gesicht, das mir entgegenblickte, war zwar zweifellos meines, aber irgendetwas stimmte nicht und ließ mich anders aussehen, ohne dass ich hätte sagen können, was es war. Jedenfalls war das nicht mein Gesicht wie ich es kannte, und jedes Mal, wenn ich meinem Spiegelbild begegnete, war es mir von neuem fremd.
Einen Tag brauchte ich, bis ich die Ursache herausfand, drei weitere Tage sollte es dauern, bis ich mich daran gewöhnte. Kaum wahrnehmbar war sie, ich hatte ja selbst sehr lange und sehr genau hinschauen müssen, um sie zu entdecken: Die allererste winzigkleine Falte unter dem Auge.
Ich glaube, das war in meinem 31. Jahr. Ich erinnere mich auch noch daran, dass ich, nachdem ich sie entdeckt hatte, dachte: Jeder, der Dich jetzt noch kennen lernt, wird Dich nur noch so kennen. Er wird nicht wissen, wie Du vorher ausgesehen hast. Und das war im ersten Moment ein eigenartiges Gefühl.

Vier Monate später sagte eines Abends die liebe Freundin, die um genau jene Zeitspanne jünger ist als ich, plötzlich zu mir:
Neulich stand ich vorm Spiegel und war mir auf einmal so fremd.
Ich lachte leise und entgegnete:
Es hat einen Tag gedauert, bis Du herausgefunden hast, wieso. Und drei weitere Tage, bis Du Dich daran gewöhnt hast, nicht wahr?
Für einen kurzen Moment verblüfft, schaute sie mich an.
In mir, raunte ich mit übertriebener Grabesstimme, hast Du Deinen eigenen Verfall vor Augen. Schließlich bin ich Dir vier Monate voraus.
Da lachte sie sehr und sagte mit gespielter Theatralik:
Aber um den Zustand absoluter Makellosigkeit, keinen einzigen Pickel mehr und noch keine Falte zu haben, um den hat man mich irgendwie betrogen.

Von Zeit zu Zeit werde ich mir immer wieder einmal fremd im Spiegel. Es irritiert mich nicht mehr so, ich kenne ich ja nun den Grund. Doch noch immer dauert es drei Tage, bis mir das veränderte Gesicht vertraut wird. Weil es stimmt, was der Pianist Menahem Pressler, Gründer des Beaux Arts Trios, ein halbes Jahr vor seinem 75. Geburtstag einmal zu mir gesagt hat: "Man vergisst leicht das eigene Alter, wenn man nicht in den Spiegel sieht. Denn das Herz ist ziemlich jung."

Die Lange Nacht über das Alter, heute im Deutschlandfunk, 23.05 bis 2.00 Uhr.

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Menahem Pressler habe ich bei unseren zwei Begegnungen als warmherzigen, sehr feinen Menschen erlebt, schon allein deshalb möchte ich auf seine Site hinweisen.

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Im Gutenberg-Projekt gibt es Through the Looking-Glass von Lewis Carroll (der deutsche Wikipedia-Eintrag ist nicht so umfassend), und diese Online-Version von Alice’s Adventures in Wonderland zeigt auch die Illustrationen von John Tenniel.
Schließlich darf an dieser Stelle der Hinweis auf Alice zwischen den Welten nicht fehlen.

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She thought she saw an aliengirl
Through Alice' Looking-Glas.
She looked again, an found it was
The Years are going pas'.
"At length I realise", she said,
"The human stain grows fast."

Und sein'se mir nich' immer so grollig.

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ich habe ein Kissen, auf den mit goldener Schrift von meiner ehemaligen Mitbewohnerin aufgestickt steht:
OLD AGE AIN'T NO PLACE FOR SISSIES
ein Ausspruch von Bette Davis.
und sie mußte es ja wissen.
und sie hat recht.

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Praktisch, so ein Kissen, man vergisst dann nicht so leicht, wie alt man schon ist. ;-)

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doch, doch, das tut man. der schock kommt dann auf fotos, wo man dachte, daß man toll geguckt hat aber man sieht aus wie ein maulwurf.
oder beim vorbeilaufen im badezimmerspiegel - gestern z.B. sah da wer aus wie abgelaufener kartoffelpüree.
nich schön,sowas.
wenn der hintern welkt, behält man immer die hose an. was aber wenn das gesicht welkt? ich kann ja nicht immer mit haßkappe rumlaufen...?

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Sich vielleicht damit trösten, dass andere - vorzugsweise jüngere - sich schlechter gehalten haben?

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ham se aber nicht. ich würd nur gern so aussehen, wie ich mich dann jewiels fühle. momentan müßte man sich das aber eher als jessica tandy vorstellen, oder wahlweise kathy bates.
zu anderen gelegenheiten wär auch mal jude law drin, nur lügen dann die beweisfotos... ;-)

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Wovor mich das Älterwerden immer noch nicht feit, ist die Tendenz, manche Dinge bis zum letzten Moment aufzuschieben. Dabei wäre es auch im Hinblick auf den Schönheitsschlaf besser, ein bisschen früher damit zu beginnen. So werden es wieder nur vier Stunden - schlecht für den Teint.

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oh ja, ich war gestern/heute nacht auch unvernünftig. mist. selbstproduzierter höllenmontag.
mit einem teint wie inge meysel, und die ist bekanntlich schon lange tot.

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komme aus der videothek, noch geschockt IHN gesehen zu haben. denke, "creep" ist jetzt genau der richtige film. es gelingt, während 80 minuten eine flasche rotwein zu trinken. erschreckend finde ich franka potente dennoch. film ist vorbei, glam muss ins bad, schaut in den spiegel: unter dem linken auge hat sich etwas getan. es könnte der stich eines liliputaner-moskitos sein. oder ein alterspickel. 80 minuten vorher war er noch nicht da.

dann ruft die mutter an, ich schaue auf den kalender. sie sagt "heute vor 41 jahren haben dein vater und ich standesamtlich geheiratet." und ich erinnere nur den 4.12.98, als sie wegen krebs unters messer ging und ich arschloch nicht einmal bei ihr war. "nein, keine angst, wir nehmen nur heraus, was bösartig ist" und mit nur noch einer brust aufwachte.
age sucks.

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das schlimme: man wird immer älter.
das gute: man lebt immer noch!

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Glamour, der rote Punkt kommt bestimmt vom zu schnellen Rotweintrinken. Und selbst wenn nicht, geht's bestimmt wieder weg.

Ja, die Eltern. Es dauert, bis man kapiert, dass die gemeinsame Zeit eben doch endlich ist. Ich versuche daher, regelmäßig Zeit mit meiner Mutter und meinem Vater zu verbringen oder zumindest regelmäßig mit ihnen zu telefonieren. Donnerstagabend gehe ich wieder mit beiden ins Konzert.
Ich glaube, am vergangenen Wochenende jährte sich ihr Hochzeitstag zum 45. Mal.

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Ach schade, den Beitrag hab ich verpasst. Musste auch bei den ganzen Tagebuch-Einträgen der letzten Zeit ans Altern denken, dass man immer noch nicht weiß, ob was weggenommen oder dazugetan wird im Leben. Und der Blick in den Spiegel erfordert heutzutage (bei mir auch schon im einundvierzigsten Jahr) eben einen Standpunkt, und vielleicht habe ich bloss vergessen, ob das früher nicht genauso war. Ganz früher, vorm älterwerden.

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Es nimmt etwas und gibt dafür etwas anderes, denke ich.
Und ja, Haltung ist erforderlich.

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