Sonntag, 2. März 2008
Schiffsmeldung
54° 26’ N, 18° 33’ O
Sie hatte Schiffskarten bekommen für sich und ihre drei älteren Kinder. Die beiden jüngeren hatte sie schon Wochen zuvor dem Kindermädchen mitgegeben, als sie die junge Frau heim zu ihren Eltern schickte. Deren Vater hatte zuvor angeboten, ein oder zwei Kinder aufzunehmen, zu essen hätten sie dank des eigenen Gartens und der kleinen Landwirtschaft genug. Im November hatte sie sich daher von ihren zwei jüngsten Söhnen getrennt, der eine war gerade einmal sieben Jahre, der andere erst zehn Monate alt.In wenigen Tagen sollte das Schiff ablegen, das auch sie und die drei älteren Kinder fortbringen sollte aus dem mondänen Seebad. Nach Franken sollte sie gehen, hatte ihr Mann ihr aufgetragen, nicht zu ihrem älteren Bruder nach Bautzen. In Coburg hatte er in früheren Jahren entfernte Verwandtschaft entdeckt, bei ihnen würden sie sich dann wiedertreffen, später, wenn dies alles vorbei wäre.
Unverhofft hatte er Heimaturlaub bekommen, war aus Riga gekommen und wollte nochmals nach der Wohnung sehen. Vielleicht wollte er auch zum Abschied ein letztes Mal auf einem seiner beiden barocken Celli spielen. Er hatte nicht damit gerechnet, dort noch seine Familie vorzufinden, die auf die Passage über die Ostsee wartete. „Nehmt nicht das Schiff“, sagte er und machte stattdessen einen Zug ausfindig, der noch nach Berlin fahren sollte. Sie verschenkte daraufhin ihre Schiffskarten an die Ehefrau eines Zahnarztes, die hatte auch Kinder.
Vier Tage bevor das Schiff in See stach, stiegen sie, ihr Mann und die drei Kinder in einen Güterwaggon. Tagelang war der Zug in eisiger Kälte unterwegs, immer wieder blieb er stundenlang auf offener Strecke stehen. Zum Glück hatte ich eine Wärmflasche mitgenommen, erzählte sie später manchmal. Darin holte ich beim Lokführer immer heißes Wasser. Es lagen so viele erfrorene Kinder neben den Gleisen, sagte sie dann mit trauriger Stimme.
In Berlin verabschiedete sich ihr Mann von ihr, sein Urlaub endete und er musste nach Riga zurück. Sie gelangte mit den drei Kindern tatsächlich nach Coburg, wo sie sich schließlich wiedertrafen: meine Großmutter, mein Großvater und alle fünf Kinder. Das Schiff, das sie damals nicht nahmen, hieß „Wilhelm Gustloff“.
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bomec,
Dienstag, 4. März 2008, 03:32
werte arboretum,
wahrscheinlich hast du gestern und heute abend vor dem Fernsehen gesessen, den Film und die Dokumentation über die Gustloff geschaut und dabei an deine großeltern gedacht, die damals irgendwo in dem flüchtlingstreck in der kälte steckten. so wie mein vater, seine mutter und die vier kleinen geschwister. sie wollten auch auf die gustloff, wären als großfamilie wohl auch an bord gekommen, aber sie kamen einen tag zu spät zum hafen, das schiff war schon ausgelaufen.
die geschichte deiner großeltern, die du in diesem schönen text niederschreibst, decken sich mit der meines vaters. die kälte, die vielen toten, die zugfahrt nach westen in viehwaggons, das heiße wasser vom lokomotivführer... es sind ganz ähnliche szenen und details, von denen mein vater, der heute 75 ist, machmal erzählt. erfahrungen, die wie nichts anderes sein leben geprägt haben. und damit - ich weiß nicht, wie es bei dir mit deinen großeltern ist? - auf bestimmte art auch den alltag seiner familie und die psychologie seiner kinder. 'die flucht' ist bis heute ein feststehender begriff, der nicht erklärt werden muß, ist maßstab und erklärung für vieles.
und wir liegen heute gemütlich auf der couch im warmen (IM WARMEN!) und sehen uns im fernsehen die dokumentarbilder an. manche gesichter der flüchtlinge, der 'zeitzeugen' sind irgendwie sehr vertraut, oder nicht? und trotzdem ist das alles so weit weg, fast unvorstellbar für mich.
auch meine eltern haben gestern und heute die dokumentation im fernsehen angeschaut. meine mutter sagte am telefon, mein vater habe heute den ganzen tag in seinem zimmer am schreibtisch gesessen und nachgedacht. er sei kaum ansprechbar gewesen.
ich habe vor zwei jahren mal einen text zu dem thema im blog geschrieben. heute finde ich die vergleiche darin ziemlich schief, aber damals hat es so gepasst. deshalb verlinke ich hier nicht. wenn du willst, findest den text unter themen, titel ist 'fluchten'.
lieben gruss, bomec
(*achso, du hast ja gar keinen fernseher, erinnere ich mich gerade. war das timing text/film also zufall?*)
wahrscheinlich hast du gestern und heute abend vor dem Fernsehen gesessen, den Film und die Dokumentation über die Gustloff geschaut und dabei an deine großeltern gedacht, die damals irgendwo in dem flüchtlingstreck in der kälte steckten. so wie mein vater, seine mutter und die vier kleinen geschwister. sie wollten auch auf die gustloff, wären als großfamilie wohl auch an bord gekommen, aber sie kamen einen tag zu spät zum hafen, das schiff war schon ausgelaufen.
die geschichte deiner großeltern, die du in diesem schönen text niederschreibst, decken sich mit der meines vaters. die kälte, die vielen toten, die zugfahrt nach westen in viehwaggons, das heiße wasser vom lokomotivführer... es sind ganz ähnliche szenen und details, von denen mein vater, der heute 75 ist, machmal erzählt. erfahrungen, die wie nichts anderes sein leben geprägt haben. und damit - ich weiß nicht, wie es bei dir mit deinen großeltern ist? - auf bestimmte art auch den alltag seiner familie und die psychologie seiner kinder. 'die flucht' ist bis heute ein feststehender begriff, der nicht erklärt werden muß, ist maßstab und erklärung für vieles.
und wir liegen heute gemütlich auf der couch im warmen (IM WARMEN!) und sehen uns im fernsehen die dokumentarbilder an. manche gesichter der flüchtlinge, der 'zeitzeugen' sind irgendwie sehr vertraut, oder nicht? und trotzdem ist das alles so weit weg, fast unvorstellbar für mich.
auch meine eltern haben gestern und heute die dokumentation im fernsehen angeschaut. meine mutter sagte am telefon, mein vater habe heute den ganzen tag in seinem zimmer am schreibtisch gesessen und nachgedacht. er sei kaum ansprechbar gewesen.
ich habe vor zwei jahren mal einen text zu dem thema im blog geschrieben. heute finde ich die vergleiche darin ziemlich schief, aber damals hat es so gepasst. deshalb verlinke ich hier nicht. wenn du willst, findest den text unter themen, titel ist 'fluchten'.
lieben gruss, bomec
(*achso, du hast ja gar keinen fernseher, erinnere ich mich gerade. war das timing text/film also zufall?*)
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arboretum,
Mittwoch, 5. März 2008, 00:21
Lieber Bomec,
ich fürchte, meine Antwort kommt nicht nur verspätet, sondern auch noch portionsweise. Der Zufall wollte es, dass ich damals, als ich keine Wohnung mehr hatte und dringend eine neue suchte, eine in derselben Straße fand, in der schon meine jüngere Schwester zusammen mit (meinem jetzigen Schwager) Kaktus wohnte. Inzwischen bin ich einmal quer über den Hof gezogen und habe dadurch eine andere Anschrift, aber es ist immer noch nur einen Steinwurf von ihr entfernt. Der Haushalt der beiden ist technisch ziemlich gut ausgestattet, sie besitzen auch einen Fernseher, und ich darf für gewöhnlich mitglotzen, wenn mir ab und an danach ist.
Es war auch kein Zufall, dass ich diese Geschichte gerade jetzt veröffentlicht habe, nachdem überall die Werbeplakate dafür klebten, nahm ich die Sendung zum Anlass. In den vergangenen Jahren ließ ich die Jahrestage regelmäßig verstreichen, mir fehlten die richtigen Worte.
Ich kannte den besagten Text (den ich atmosphärisch sehr dicht und viel, viel besser als meinen finde) - es ist übrigens nicht die einzige Parallele in unser beider Leben, wir haben noch ein paar andere Dinge gemeinsam. Ich habe auch den Vergleich nicht als schräg empfunden. Mag auch die äußere Not fehlen, kann doch die seelische sehr groß sein.
Wenn ich mir meinen Vater anschaue, dann wirkt sie bei ihm sicherlich länger nach als all der Hunger, die Kälte und Gewalt, die er als Kind erlitt. Mein Vater verlor seinen Vater, meine Mutter ihre Heimat, ihre Freundinnen und so gut wie alles, was sie besaß. Beides geschah Ende Januar 1945 (vielleicht schaffe ich es eines Tages doch noch, die beiden angefangenen Texte über Weihnachten und den Tod meines anderen Großvaters zu Ende zu schreiben). Trotz der Flucht wirkt meine Mutter auf mich wie diejenige, die von den beiden die Nazizeit, den Krieg und seine Folgen unbeschadeter überstanden hat. Was sicherlich auch daran lag, dass Ende September 1945 ein Lebenszeichen von ihrem Vater kam und er selbst dann Anfang Juli 1946.
Morgen schreibe ich dann weiter, wozu ich jetzt zu müde bin.
ich fürchte, meine Antwort kommt nicht nur verspätet, sondern auch noch portionsweise. Der Zufall wollte es, dass ich damals, als ich keine Wohnung mehr hatte und dringend eine neue suchte, eine in derselben Straße fand, in der schon meine jüngere Schwester zusammen mit (meinem jetzigen Schwager) Kaktus wohnte. Inzwischen bin ich einmal quer über den Hof gezogen und habe dadurch eine andere Anschrift, aber es ist immer noch nur einen Steinwurf von ihr entfernt. Der Haushalt der beiden ist technisch ziemlich gut ausgestattet, sie besitzen auch einen Fernseher, und ich darf für gewöhnlich mitglotzen, wenn mir ab und an danach ist.
Es war auch kein Zufall, dass ich diese Geschichte gerade jetzt veröffentlicht habe, nachdem überall die Werbeplakate dafür klebten, nahm ich die Sendung zum Anlass. In den vergangenen Jahren ließ ich die Jahrestage regelmäßig verstreichen, mir fehlten die richtigen Worte.
Ich kannte den besagten Text (den ich atmosphärisch sehr dicht und viel, viel besser als meinen finde) - es ist übrigens nicht die einzige Parallele in unser beider Leben, wir haben noch ein paar andere Dinge gemeinsam. Ich habe auch den Vergleich nicht als schräg empfunden. Mag auch die äußere Not fehlen, kann doch die seelische sehr groß sein.
Wenn ich mir meinen Vater anschaue, dann wirkt sie bei ihm sicherlich länger nach als all der Hunger, die Kälte und Gewalt, die er als Kind erlitt. Mein Vater verlor seinen Vater, meine Mutter ihre Heimat, ihre Freundinnen und so gut wie alles, was sie besaß. Beides geschah Ende Januar 1945 (vielleicht schaffe ich es eines Tages doch noch, die beiden angefangenen Texte über Weihnachten und den Tod meines anderen Großvaters zu Ende zu schreiben). Trotz der Flucht wirkt meine Mutter auf mich wie diejenige, die von den beiden die Nazizeit, den Krieg und seine Folgen unbeschadeter überstanden hat. Was sicherlich auch daran lag, dass Ende September 1945 ein Lebenszeichen von ihrem Vater kam und er selbst dann Anfang Juli 1946.
Morgen schreibe ich dann weiter, wozu ich jetzt zu müde bin.
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