Mittwoch, 28. September 2005
Paint it black
Sie sei so müde, hatte Katja mir am Donnerstag noch erzählt, als ich mit ihr draußen im Hausflur stand, während sie eine Zigarette rauchte. Sie hatte in den vergangenen zwei Wochen einfach zu viel gearbeitet und freute sich schon aufs Wochenende. Am Freitag klagte sie kurz bei einer anderen Kollegin über Sehstörungen. Irgendetwas mache sie wohl in ihrem Leben verkehrt, sagte sie noch, weil es wieder einmal spät geworden war. Sie würde auch gern einmal lange um die Welt reisen. Am Montag ist sie dann nicht zur Arbeit erschienen, sämtliche Anrufe und Short Messages gingen ins Leere. "Als sie am Montag nicht kam", sagte mir die Kollegin heute, "da dachte ich noch für einen Moment, jetzt hat sie es wahrgemacht. Hat alles stehen und liegen lassen und ist aufgebrochen zur langen Reise um die Welt."
Katjas Freund ist am Sonntagabend beim Vermieter gewesen, der im selben Haus wohnt. Als er in die Wohnung zurückkehrte, lag Katja tot im Badezimmer.
Katjas Freund ist am Sonntagabend beim Vermieter gewesen, der im selben Haus wohnt. Als er in die Wohnung zurückkehrte, lag Katja tot im Badezimmer.
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Donnerstag, 22. September 2005
Gewese an der Weser
Etwas Besseres als den Tod - in meinem Fall ist es ein Umzug, in den ich mitten hineingerate. Ungeplant zwar, dafür aber ohne Musikanten, sieht man davon einmal ab, dass die Freundin, die ich besuche, eigentlich Sängerin ist.
Für die Kunsthalle wird die Zeit hoffentlich dennoch reichen, ich möchte mir dort noch einmal de Vlamincks Seinelandschaft ansehen, ein großartiges Bild, das ich im vergangenen Herbst in Essenam liebsten geklaut hätte bewundert habe. Maurice de Vlaminck war Autodidakt, bevor er zu malen begann, war er Profi-Radsportler gewesen. Er stammte aus einer Musikerfamilie und verdiente zeitweise sein Geld als Geiger, später schrieb er auch Gedichte, Romane, Kritiken und schuf Theaterdekorationen. Diese Wiedergaben einiger seiner Gemälde wie auch jene vermitteln allenfalls eine Ahnung von der Dramatik in seinen Bildern.
Wenn ich mich dann an der Sammlung satt gesehen habe, bleiben noch 29 andere Museen zur Auswahl, sogar ein Krankenhausmuseum haben die da. Einst war es ein Asyl, in dem Kranke durchaus auch einmal tage- oder gar wochenlang in ein Dauerbad gesteckt wurden. Die "moderneren" Behandlungsmethoden waren dann aber auch nicht besser: "Da steht ein Bett wie alle Krankenhausbetten. Da steht ein kleines Gerät im Nachkriegsdesign und ist doch das Elektroschockgerät von Siemens", beschrieb die taz 1995 und lobte die "unspektakuläre Schau", die das Alltägliche im Irrenhausalltag zeigt.
Und sie fliegen heute noch, heißt das Drachenarchiv (Sachen gibt's), aber da tut sich anscheinend nicht so viel. Ich fliege übrigens nicht, sondern fahre wieder einmal Zug, schließlich will die Erkältung aufgefrischt werden. Montag bin ich dann wieder da, dann geht's weiter nach Meiningen.
Für die Kunsthalle wird die Zeit hoffentlich dennoch reichen, ich möchte mir dort noch einmal de Vlamincks Seinelandschaft ansehen, ein großartiges Bild, das ich im vergangenen Herbst in Essen
Wenn ich mich dann an der Sammlung satt gesehen habe, bleiben noch 29 andere Museen zur Auswahl, sogar ein Krankenhausmuseum haben die da. Einst war es ein Asyl, in dem Kranke durchaus auch einmal tage- oder gar wochenlang in ein Dauerbad gesteckt wurden. Die "moderneren" Behandlungsmethoden waren dann aber auch nicht besser: "Da steht ein Bett wie alle Krankenhausbetten. Da steht ein kleines Gerät im Nachkriegsdesign und ist doch das Elektroschockgerät von Siemens", beschrieb die taz 1995 und lobte die "unspektakuläre Schau", die das Alltägliche im Irrenhausalltag zeigt.
Und sie fliegen heute noch, heißt das Drachenarchiv (Sachen gibt's), aber da tut sich anscheinend nicht so viel. Ich fliege übrigens nicht, sondern fahre wieder einmal Zug, schließlich will die Erkältung aufgefrischt werden. Montag bin ich dann wieder da, dann geht's weiter nach Meiningen.
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Mittwoch, 21. September 2005
Time is not on my side
Er ist wirklich nett, wie die anderen auch. Absurderweise klingen ihre Einladungen ja immer leicht drohend und machen einem unmissverständlich klar, dass man sie nicht ablehnen kann. Ich sehe ihn heute zum ersten Mal, darum erkundige ich mich nach seinem Kollegen. „Doch, der ist noch da“, sagt er, der sei nur im Urlaub gewesen, deshalb habe er ihm ein bisschen ausgeholfen. „Ach so“, sage ich, „ich dachte schon. Die Kollegin, bei der ich das erste Mal war, war ja beim nächsten Mal schon nicht mehr da“. „Wie so viele“, antwortet er, „sie hat aber wieder einen Job. Schon den zweiten. Erst war sie in einem Hotel, jetzt ist sie in der Sprachenschule da und da, wir haben immer noch Kontakt.“
Später wird er mir dann erzählen, dass sie alle gar nicht wissen, wie es weitergeht. „Die FDP“, wird er sagen, „hat sich ja sehr für die Zerschlagung eingesetzt.“ Die Unsicherheit wird sich in seinem Gesicht und seiner Stimme zeigen, schließlich ist er gut und gerne über 50, und ich werde leise etwas Mitfühlendes erwidern.
Jetzt aber spielen wir erst einmal mit der Software, das heißt, er spielt, weil ich ihm erzähle, an welcher Stelle die Datenbank mit unsinnigen Inhalten gefüttert worden ist. „Da haben Sie recht“, sagt er und versucht, die Datenbank auszutricksen, aber es geht nicht, was ihn ein bisschen erheitert. Wir plaudern ein bisschen, fehlt eigentlich nur noch, dass er mir eine Tasse Tee anbietet. Dann spielt er wieder am Computer. „26 Euro am Tag, das Programm rechnet alles aus“, sagt er und stößt einen Laut aus, der zugleich sein Staunen über die Software und sein Mitgefühl ausdrückt. „Mit dem, was Sie in der Schneekugelmanufaktur dazuverdienen, reicht das vielleicht gerade einmal so. Oder auch nicht.“ - „Eher nicht“, entgegne ich und lächele entschuldigend. „Anspruch: noch 159 Tage“, liest er vor. Ich nicke wissend. Die Zeit ist nicht auf meiner Seite. Morgen werden es dann nur noch 158 Tage sein.
Später wird er mir dann erzählen, dass sie alle gar nicht wissen, wie es weitergeht. „Die FDP“, wird er sagen, „hat sich ja sehr für die Zerschlagung eingesetzt.“ Die Unsicherheit wird sich in seinem Gesicht und seiner Stimme zeigen, schließlich ist er gut und gerne über 50, und ich werde leise etwas Mitfühlendes erwidern.
Jetzt aber spielen wir erst einmal mit der Software, das heißt, er spielt, weil ich ihm erzähle, an welcher Stelle die Datenbank mit unsinnigen Inhalten gefüttert worden ist. „Da haben Sie recht“, sagt er und versucht, die Datenbank auszutricksen, aber es geht nicht, was ihn ein bisschen erheitert. Wir plaudern ein bisschen, fehlt eigentlich nur noch, dass er mir eine Tasse Tee anbietet. Dann spielt er wieder am Computer. „26 Euro am Tag, das Programm rechnet alles aus“, sagt er und stößt einen Laut aus, der zugleich sein Staunen über die Software und sein Mitgefühl ausdrückt. „Mit dem, was Sie in der Schneekugelmanufaktur dazuverdienen, reicht das vielleicht gerade einmal so. Oder auch nicht.“ - „Eher nicht“, entgegne ich und lächele entschuldigend. „Anspruch: noch 159 Tage“, liest er vor. Ich nicke wissend. Die Zeit ist nicht auf meiner Seite. Morgen werden es dann nur noch 158 Tage sein.
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Winston says
Passive Lohnveredelung. Auch so etwas.
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Montag, 19. September 2005
Ab in die Tonne
Im Morgenrot mache ich mich auf den Weg. Die Nachbarin im Erdgeschoss hat vergangene Nacht unverhofft ihren Geburtstag gefeiert, lang und laut. Drei Stunden Schlaf sind mir zu wenig, ich bin nicht mehr 18. In der Straße zum Wahllokal hole ich zwei weitere müde Gestalten ein, die eine dreht sich zu mir um: "Auch Wahlhelferin?". Sie wisse gar nicht, wo das sei, sagt sie mir dann. Der dickliche Mann eilt uns weiter voraus, wir gehen ihm einfach hinterher.
Schlaftrunken stolpere ich über eine Stufe am Eingang und humpele dann auf Anhieb in den richtigen Raum. Der Wahlvorsteher hat sich in Schale geworfen, als sei er von der FDP. Quietschwach und fröhlich begrüßt er uns, er mache das schon zum elften Mal. Ich schätze ihn auf Anfang 30. Seine Stellvertreterin ist ungefähr so alt wie ich, sie spricht Dialekt, dafür aber ununterbrochen.
Stolz zeigt sie dem Wahlvorsteher die Argumentationshilfen der FDP, die sie sich für einen Schulbesuch vor drei Tagen ausgeliehen hat. "Sieht gut aus", findet er. "Sowas haben wir nicht. Ich sollte die Partei wechseln."
Gemeinsam bauen wir die Wahlkabinen auf, es gibt keine Kordeln, um die Stifte festzubinden, aber irgendein anderer Wahlhelfer im Nebenraum hat giftgrünes Geschenkband, das tut’s auch. Wir teilen schnell die Schichten ein, der ältere Herr lässt sich zum stellvertretenden Schriftführer bestimmen. Die Frau von der Straße und ich sollen uns an den Tisch am Eingang setzen, uns die Wahlkarten zeigen lassen und die Stimmzettel austeilen.
Dann erklärt der Wahlvorsteher uns noch, dass nur sehr kleine Kinder mit in die Wahlkabine dürfen. Anschließend sollen wir alle in die Wahlurne - eine hellgraue Plastikmülltonne - hineinschauen, dass sie auch leer ist, bevor er sie abschließt. Liebes Wahlamt, schon einmal etwas von Psychologie gehört? Selbst wenn da jetzt "Wahlamt" unter dem Schlitz im Deckel eingeprägt ist, es sieht trotzdem aus wie eine Mülltonne. Ich wette, sowas haben sie in Afghanistan nicht.
Es ist acht Minuten vor acht Uhr, auf dem Flur scharren schon die ersten Wähler mit den Hufen. "Wir alle sind natürlich zur Neutralität verpflichtet", sagt der Wahlvorsteher noch, dann erklärt er die Wahlhandlung für eröffnet und verabschiedet sich bis zum Nachmittag.
Anfangs kommen hauptsächlich Senioren und Frühsportler. Gegen halb neun Uhr verschenke ich meine Erststimme, gebe sie einem Direktkandidaten, der keine Chance haben wird. Zweimal hatte ich sie ausgeliehen, aber nach dieser Farce von Vertrauensfrage, habe ich dazu keine Lust mehr. Die Beisitzerin neben mir trägt 13 Ringe an acht Fingern und hat schon fünf besserwisserische Bemerkungen gemacht. Ich schalte mein Gehirn auf stand-by.
Gruppentische gemeinsam und leise zusammenstellen, steht auf einem selbst gemalten Plakat an der Wand: Regeln der Gruppenarbeit. Siebtes Schuljahr, also. Am Fenster kleben handgroße Aufkleber von zwei Kreditkartenunternehmen, im Raum die Trostlosigkeit einer Haupt- und Realschule.
Die Stimmzettel sind ungeschickt gefaltet, wir müssen allen Leuten erklären, dass sie sie anders falten sollen, bevor sie sie in die Urne stecken, damit man es nicht sieht, falls sie SPD oder CDU angekreuzt haben. Umschläge gibt es keine mehr, es spart Papier und Zeit beim Auszählen. Viele kapieren das aber nicht, also fangen wir an, die Stimmzettel umzufalten. Nun klappt’s.
"Nehmen Sie ein Tempo mit", rät die stellvertretende Wahlvorsteherin, als die andere Beisitzerin zur Toilette geht. "Wahrscheinlich gibt es kein Toilettenpapier, weil die Kinder die Rollen immer ins Klo werfen und das dann verstopft. In der Schule meiner Tochter ist das auch so." Wir gucken uns etwas entgeistert an. "So kann man das Einsparen natürlich auch begründen", murmele ich.
Dann kommen die, die in den Gottesdienst wollen. Die stellvertretende Wahlvorsteherin rechnet fest mit einer schwarz-gelben Mehrheit. Mein Fuß tut immer noch weh. Zur Feier des Tages gibt es auf der Toilette doch Papier, Seife oder Handtücher jedoch nicht. Noch mehr Kirchgänger kommen, es ist halb elf Uhr. Noch zweieinhalb Stunden. Die Beisitzerin erzählt, dass sie verwitwet ist, dann erwähnt sie Bad Doberan. Ich beschließe, sie doch ein bisschen sympathisch zu finden und frage sie, ob sie dort aufgewachsen sei. Sie bejaht, und ich lasse mir ihr Leben erzählen.
Noch mehr Wähler kommen. Einer beschwert sich, dass wir seinen Ausweis nicht kontrollieren, einige motzen einfach so, wussten wohl nicht, wohin mit ihrer schlechten Sonntagslaune. Eine Jungwählerin ruft nach ihrem Onkel, der in der Kabine nebenan ist. "Ich weiß nicht, wie das geht", jammert sie. Als der Onkel zu ihr hinübergehen will, wirft sich die Stellvertreterin dazwischen. "Dazu bin ich da." Die Mutter stöhnt: "Das habe ich ihr doch alles heute früh nochmals erklärt".
Die Ablösung kommt schon um halb eins Uhr, ich darf gehen. Eigentlich wollte ich nach dem Essen bloggen, aber ich schlafe ein.
Ein Wähler kommt zu spät, just nachdem die Wahlhandlung für beendet erklärt worden ist. 669 Wahlbenachrichtigungskarten haben unsere beiden Wahlvorsteher gezählt, wir haben aber 670 Stimmzettel. Kurze Hektik, dann fällt ihnen ein, dass einer ja mit einem Wahlschein kam. Alles in Ordnung. Wir sortieren ordentliche Haufen: Stimmzettel, auf denen beide Stimmen für eine Partei abgegeben wurden, ungültige und wilde Stimmen, das sind die gesplitteten Stimmen. Die Ergebnisse werden an die Tafel geschrieben - es geht nicht auf. Jetzt fehlen neun Stimmen. Der Wahlvorsteher seufzt verzweifelt, draußen auf dem Flur gehen die Wahlhelfer von nebenan vorbei. Sie verabschieden sich grinsend und wünschen noch einen schönen Abend. "Die sind immer so schnell", sagt die Stellvertreterin beruhigend. Es ist 18.30 Uhr. "Hier sind doch noch die Ungültigen", ruft sie kurz darauf, "die haben wir doch noch nicht gezählt". Es sind acht, fehlt also immer noch eine. Alles Verbrecher steht auf einem Stimmzettel. Wo ist dieser verflixte Stimmzettel, der noch fehlt? Wir zählen noch einmal, schließlich taucht er bei der SPD auf. Jetzt stimmt’s endlich, wir können alles einpacken und versiegeln.
"Ich hoffe nur, dass es ein eindeutiges Ergebnis wird", sagt der Wahlvorsteher zu seiner Stellvertreterin. "Egal, wie. Auch wenn Euch das dann ärgert".
Es ist 19.05 Uhr. In den beiden anderen Räumen wird noch gezählt, als wir gehen. Die Wahlbeteiligung lag in unserem Wahlbezirk bei 73 Prozent. Rot-grün hat hier eine satte Mehrheit. Fünf Stimmen bekam die Tierschutzpartei, mehr als die N*D, R*P und B*SO. Auf dem Heimweg kaufe ich mir ein Eis.
Schlaftrunken stolpere ich über eine Stufe am Eingang und humpele dann auf Anhieb in den richtigen Raum. Der Wahlvorsteher hat sich in Schale geworfen, als sei er von der FDP. Quietschwach und fröhlich begrüßt er uns, er mache das schon zum elften Mal. Ich schätze ihn auf Anfang 30. Seine Stellvertreterin ist ungefähr so alt wie ich, sie spricht Dialekt, dafür aber ununterbrochen.
Stolz zeigt sie dem Wahlvorsteher die Argumentationshilfen der FDP, die sie sich für einen Schulbesuch vor drei Tagen ausgeliehen hat. "Sieht gut aus", findet er. "Sowas haben wir nicht. Ich sollte die Partei wechseln."
Gemeinsam bauen wir die Wahlkabinen auf, es gibt keine Kordeln, um die Stifte festzubinden, aber irgendein anderer Wahlhelfer im Nebenraum hat giftgrünes Geschenkband, das tut’s auch. Wir teilen schnell die Schichten ein, der ältere Herr lässt sich zum stellvertretenden Schriftführer bestimmen. Die Frau von der Straße und ich sollen uns an den Tisch am Eingang setzen, uns die Wahlkarten zeigen lassen und die Stimmzettel austeilen.
Dann erklärt der Wahlvorsteher uns noch, dass nur sehr kleine Kinder mit in die Wahlkabine dürfen. Anschließend sollen wir alle in die Wahlurne - eine hellgraue Plastikmülltonne - hineinschauen, dass sie auch leer ist, bevor er sie abschließt. Liebes Wahlamt, schon einmal etwas von Psychologie gehört? Selbst wenn da jetzt "Wahlamt" unter dem Schlitz im Deckel eingeprägt ist, es sieht trotzdem aus wie eine Mülltonne. Ich wette, sowas haben sie in Afghanistan nicht.
Es ist acht Minuten vor acht Uhr, auf dem Flur scharren schon die ersten Wähler mit den Hufen. "Wir alle sind natürlich zur Neutralität verpflichtet", sagt der Wahlvorsteher noch, dann erklärt er die Wahlhandlung für eröffnet und verabschiedet sich bis zum Nachmittag.
Anfangs kommen hauptsächlich Senioren und Frühsportler. Gegen halb neun Uhr verschenke ich meine Erststimme, gebe sie einem Direktkandidaten, der keine Chance haben wird. Zweimal hatte ich sie ausgeliehen, aber nach dieser Farce von Vertrauensfrage, habe ich dazu keine Lust mehr. Die Beisitzerin neben mir trägt 13 Ringe an acht Fingern und hat schon fünf besserwisserische Bemerkungen gemacht. Ich schalte mein Gehirn auf stand-by.
Gruppentische gemeinsam und leise zusammenstellen, steht auf einem selbst gemalten Plakat an der Wand: Regeln der Gruppenarbeit. Siebtes Schuljahr, also. Am Fenster kleben handgroße Aufkleber von zwei Kreditkartenunternehmen, im Raum die Trostlosigkeit einer Haupt- und Realschule.
Die Stimmzettel sind ungeschickt gefaltet, wir müssen allen Leuten erklären, dass sie sie anders falten sollen, bevor sie sie in die Urne stecken, damit man es nicht sieht, falls sie SPD oder CDU angekreuzt haben. Umschläge gibt es keine mehr, es spart Papier und Zeit beim Auszählen. Viele kapieren das aber nicht, also fangen wir an, die Stimmzettel umzufalten. Nun klappt’s.
"Nehmen Sie ein Tempo mit", rät die stellvertretende Wahlvorsteherin, als die andere Beisitzerin zur Toilette geht. "Wahrscheinlich gibt es kein Toilettenpapier, weil die Kinder die Rollen immer ins Klo werfen und das dann verstopft. In der Schule meiner Tochter ist das auch so." Wir gucken uns etwas entgeistert an. "So kann man das Einsparen natürlich auch begründen", murmele ich.
Dann kommen die, die in den Gottesdienst wollen. Die stellvertretende Wahlvorsteherin rechnet fest mit einer schwarz-gelben Mehrheit. Mein Fuß tut immer noch weh. Zur Feier des Tages gibt es auf der Toilette doch Papier, Seife oder Handtücher jedoch nicht. Noch mehr Kirchgänger kommen, es ist halb elf Uhr. Noch zweieinhalb Stunden. Die Beisitzerin erzählt, dass sie verwitwet ist, dann erwähnt sie Bad Doberan. Ich beschließe, sie doch ein bisschen sympathisch zu finden und frage sie, ob sie dort aufgewachsen sei. Sie bejaht, und ich lasse mir ihr Leben erzählen.
Noch mehr Wähler kommen. Einer beschwert sich, dass wir seinen Ausweis nicht kontrollieren, einige motzen einfach so, wussten wohl nicht, wohin mit ihrer schlechten Sonntagslaune. Eine Jungwählerin ruft nach ihrem Onkel, der in der Kabine nebenan ist. "Ich weiß nicht, wie das geht", jammert sie. Als der Onkel zu ihr hinübergehen will, wirft sich die Stellvertreterin dazwischen. "Dazu bin ich da." Die Mutter stöhnt: "Das habe ich ihr doch alles heute früh nochmals erklärt".
Die Ablösung kommt schon um halb eins Uhr, ich darf gehen. Eigentlich wollte ich nach dem Essen bloggen, aber ich schlafe ein.
Ein Wähler kommt zu spät, just nachdem die Wahlhandlung für beendet erklärt worden ist. 669 Wahlbenachrichtigungskarten haben unsere beiden Wahlvorsteher gezählt, wir haben aber 670 Stimmzettel. Kurze Hektik, dann fällt ihnen ein, dass einer ja mit einem Wahlschein kam. Alles in Ordnung. Wir sortieren ordentliche Haufen: Stimmzettel, auf denen beide Stimmen für eine Partei abgegeben wurden, ungültige und wilde Stimmen, das sind die gesplitteten Stimmen. Die Ergebnisse werden an die Tafel geschrieben - es geht nicht auf. Jetzt fehlen neun Stimmen. Der Wahlvorsteher seufzt verzweifelt, draußen auf dem Flur gehen die Wahlhelfer von nebenan vorbei. Sie verabschieden sich grinsend und wünschen noch einen schönen Abend. "Die sind immer so schnell", sagt die Stellvertreterin beruhigend. Es ist 18.30 Uhr. "Hier sind doch noch die Ungültigen", ruft sie kurz darauf, "die haben wir doch noch nicht gezählt". Es sind acht, fehlt also immer noch eine. Alles Verbrecher steht auf einem Stimmzettel. Wo ist dieser verflixte Stimmzettel, der noch fehlt? Wir zählen noch einmal, schließlich taucht er bei der SPD auf. Jetzt stimmt’s endlich, wir können alles einpacken und versiegeln.
"Ich hoffe nur, dass es ein eindeutiges Ergebnis wird", sagt der Wahlvorsteher zu seiner Stellvertreterin. "Egal, wie. Auch wenn Euch das dann ärgert".
Es ist 19.05 Uhr. In den beiden anderen Räumen wird noch gezählt, als wir gehen. Die Wahlbeteiligung lag in unserem Wahlbezirk bei 73 Prozent. Rot-grün hat hier eine satte Mehrheit. Fünf Stimmen bekam die Tierschutzpartei, mehr als die N*D, R*P und B*SO. Auf dem Heimweg kaufe ich mir ein Eis.
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Donnerstag, 15. September 2005
Ruinenblüten
Es war keine Berufung und keine besondere Begabung, die mich zum Schreiben drängten, sondern ganz einfach das Rätsel, das mir ein Mann aufgab, den zu finden ich keine Chance hatte, und all die Fragen, auf die es niemals eine Antwort geben würde.
- Patrick Modiano: Ruinenblüten -
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Montag, 12. September 2005
Runaway train
Am Freitagabend, als ich mir am Automaten die Platzkarten für die Zugfahrt nach Bremen ziehe, flimmert das Europa-Spezialangebot permanent über den Bildschirm, weckt Sehnsucht nach Prag oder Budapest, und wie wäre es mit Wien? Ich war noch nie in Wien. Meine Finger schweben einen Moment lang über den Tasten, dabei bin ich doch jetzt schon viel zu müde, um später noch auszugehen. Mit den Platzkarten in der Tasche, fahre ich schließlich nur nach Hause.
Eigentlich möchte ich ans Meer.
Eigentlich möchte ich ans Meer.
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