Montag, 19. September 2005
Ab in die Tonne
Im Morgenrot mache ich mich auf den Weg. Die Nachbarin im Erdgeschoss hat vergangene Nacht unverhofft ihren Geburtstag gefeiert, lang und laut. Drei Stunden Schlaf sind mir zu wenig, ich bin nicht mehr 18. In der Straße zum Wahllokal hole ich zwei weitere müde Gestalten ein, die eine dreht sich zu mir um: "Auch Wahlhelferin?". Sie wisse gar nicht, wo das sei, sagt sie mir dann. Der dickliche Mann eilt uns weiter voraus, wir gehen ihm einfach hinterher.

Schlaftrunken stolpere ich über eine Stufe am Eingang und humpele dann auf Anhieb in den richtigen Raum. Der Wahlvorsteher hat sich in Schale geworfen, als sei er von der FDP. Quietschwach und fröhlich begrüßt er uns, er mache das schon zum elften Mal. Ich schätze ihn auf Anfang 30. Seine Stellvertreterin ist ungefähr so alt wie ich, sie spricht Dialekt, dafür aber ununterbrochen.
Stolz zeigt sie dem Wahlvorsteher die Argumentationshilfen der FDP, die sie sich für einen Schulbesuch vor drei Tagen ausgeliehen hat. "Sieht gut aus", findet er. "Sowas haben wir nicht. Ich sollte die Partei wechseln."

Gemeinsam bauen wir die Wahlkabinen auf, es gibt keine Kordeln, um die Stifte festzubinden, aber irgendein anderer Wahlhelfer im Nebenraum hat giftgrünes Geschenkband, das tut’s auch. Wir teilen schnell die Schichten ein, der ältere Herr lässt sich zum stellvertretenden Schriftführer bestimmen. Die Frau von der Straße und ich sollen uns an den Tisch am Eingang setzen, uns die Wahlkarten zeigen lassen und die Stimmzettel austeilen.

Dann erklärt der Wahlvorsteher uns noch, dass nur sehr kleine Kinder mit in die Wahlkabine dürfen. Anschließend sollen wir alle in die Wahlurne - eine hellgraue Plastikmülltonne - hineinschauen, dass sie auch leer ist, bevor er sie abschließt. Liebes Wahlamt, schon einmal etwas von Psychologie gehört? Selbst wenn da jetzt "Wahlamt" unter dem Schlitz im Deckel eingeprägt ist, es sieht trotzdem aus wie eine Mülltonne. Ich wette, sowas haben sie in Afghanistan nicht.

Es ist acht Minuten vor acht Uhr, auf dem Flur scharren schon die ersten Wähler mit den Hufen. "Wir alle sind natürlich zur Neutralität verpflichtet", sagt der Wahlvorsteher noch, dann erklärt er die Wahlhandlung für eröffnet und verabschiedet sich bis zum Nachmittag.

Anfangs kommen hauptsächlich Senioren und Frühsportler. Gegen halb neun Uhr verschenke ich meine Erststimme, gebe sie einem Direktkandidaten, der keine Chance haben wird. Zweimal hatte ich sie ausgeliehen, aber nach dieser Farce von Vertrauensfrage, habe ich dazu keine Lust mehr. Die Beisitzerin neben mir trägt 13 Ringe an acht Fingern und hat schon fünf besserwisserische Bemerkungen gemacht. Ich schalte mein Gehirn auf stand-by.

Gruppentische gemeinsam und leise zusammenstellen, steht auf einem selbst gemalten Plakat an der Wand: Regeln der Gruppenarbeit. Siebtes Schuljahr, also. Am Fenster kleben handgroße Aufkleber von zwei Kreditkartenunternehmen, im Raum die Trostlosigkeit einer Haupt- und Realschule.

Die Stimmzettel sind ungeschickt gefaltet, wir müssen allen Leuten erklären, dass sie sie anders falten sollen, bevor sie sie in die Urne stecken, damit man es nicht sieht, falls sie SPD oder CDU angekreuzt haben. Umschläge gibt es keine mehr, es spart Papier und Zeit beim Auszählen. Viele kapieren das aber nicht, also fangen wir an, die Stimmzettel umzufalten. Nun klappt’s.

"Nehmen Sie ein Tempo mit", rät die stellvertretende Wahlvorsteherin, als die andere Beisitzerin zur Toilette geht. "Wahrscheinlich gibt es kein Toilettenpapier, weil die Kinder die Rollen immer ins Klo werfen und das dann verstopft. In der Schule meiner Tochter ist das auch so." Wir gucken uns etwas entgeistert an. "So kann man das Einsparen natürlich auch begründen", murmele ich.

Dann kommen die, die in den Gottesdienst wollen. Die stellvertretende Wahlvorsteherin rechnet fest mit einer schwarz-gelben Mehrheit. Mein Fuß tut immer noch weh. Zur Feier des Tages gibt es auf der Toilette doch Papier, Seife oder Handtücher jedoch nicht. Noch mehr Kirchgänger kommen, es ist halb elf Uhr. Noch zweieinhalb Stunden. Die Beisitzerin erzählt, dass sie verwitwet ist, dann erwähnt sie Bad Doberan. Ich beschließe, sie doch ein bisschen sympathisch zu finden und frage sie, ob sie dort aufgewachsen sei. Sie bejaht, und ich lasse mir ihr Leben erzählen.

Noch mehr Wähler kommen. Einer beschwert sich, dass wir seinen Ausweis nicht kontrollieren, einige motzen einfach so, wussten wohl nicht, wohin mit ihrer schlechten Sonntagslaune. Eine Jungwählerin ruft nach ihrem Onkel, der in der Kabine nebenan ist. "Ich weiß nicht, wie das geht", jammert sie. Als der Onkel zu ihr hinübergehen will, wirft sich die Stellvertreterin dazwischen. "Dazu bin ich da." Die Mutter stöhnt: "Das habe ich ihr doch alles heute früh nochmals erklärt".

Die Ablösung kommt schon um halb eins Uhr, ich darf gehen. Eigentlich wollte ich nach dem Essen bloggen, aber ich schlafe ein.

Ein Wähler kommt zu spät, just nachdem die Wahlhandlung für beendet erklärt worden ist. 669 Wahlbenachrichtigungskarten haben unsere beiden Wahlvorsteher gezählt, wir haben aber 670 Stimmzettel. Kurze Hektik, dann fällt ihnen ein, dass einer ja mit einem Wahlschein kam. Alles in Ordnung. Wir sortieren ordentliche Haufen: Stimmzettel, auf denen beide Stimmen für eine Partei abgegeben wurden, ungültige und wilde Stimmen, das sind die gesplitteten Stimmen. Die Ergebnisse werden an die Tafel geschrieben - es geht nicht auf. Jetzt fehlen neun Stimmen. Der Wahlvorsteher seufzt verzweifelt, draußen auf dem Flur gehen die Wahlhelfer von nebenan vorbei. Sie verabschieden sich grinsend und wünschen noch einen schönen Abend. "Die sind immer so schnell", sagt die Stellvertreterin beruhigend. Es ist 18.30 Uhr. "Hier sind doch noch die Ungültigen", ruft sie kurz darauf, "die haben wir doch noch nicht gezählt". Es sind acht, fehlt also immer noch eine. Alles Verbrecher steht auf einem Stimmzettel. Wo ist dieser verflixte Stimmzettel, der noch fehlt? Wir zählen noch einmal, schließlich taucht er bei der SPD auf. Jetzt stimmt’s endlich, wir können alles einpacken und versiegeln.

"Ich hoffe nur, dass es ein eindeutiges Ergebnis wird", sagt der Wahlvorsteher zu seiner Stellvertreterin. "Egal, wie. Auch wenn Euch das dann ärgert".

Es ist 19.05 Uhr. In den beiden anderen Räumen wird noch gezählt, als wir gehen. Die Wahlbeteiligung lag in unserem Wahlbezirk bei 73 Prozent. Rot-grün hat hier eine satte Mehrheit. Fünf Stimmen bekam die Tierschutzpartei, mehr als die N*D, R*P und B*SO. Auf dem Heimweg kaufe ich mir ein Eis.

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Klingt anstrengender als Drachentoeten, dafuer aber Eislohn. Dass das andere Team immer schneller ist und gutgelaunt einpackt, etc. ist auch eine der ontologischen/ anthropologischen Konstanten dieser Welt (ist das bei den Tieren auch so?).

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Keine Ahnung, wie das in der Tierwelt ist, aber wir haben uns natürlich auch fröhlich von den beiden Teams verabschiedet, die noch hektisch am Zählen waren. Ich habe zwischendurch an Sie gedacht, ob die Papiere noch rechtzeitig ankamen und Sie wählen konnten.

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So habe ich mir das auch ungefähr vorgestellt. ich habe ja in der Schule bei mir um die Ecke gewählt, da war das ganz ähnlich, und mich die ganze Zeit gefragt, wie ich es eigentlich geschafft habe, 13 Jahre lang ein derartiges Institut zu besuchen, ohne eines Morgens einfach nicht mehr hinzugehen.

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Das ist mir auch mehr und mehr zum Rätsel geworden. In der Oberstufe begann der Unterricht häufiger um 7.30 Uhr - wie habe ich das überhaupt jemals geschafft, frage ich mich heute. Immerhin, bei uns gab es im Prinzip noch Toilettenpapier, Seife und Handtücher auf den Toiletten. Mich wundert auch, dass sich die Schüler das heute gefallen lassen.

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Wenn man schneller sein will als das Nachbarwahllokal, darf man sich beim Auszählen nicht an die Vorschriften halten. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn alle den Überblick bewahren. Und deshalb würde ich nur im Notfalle Leute als Wahlhelfer verpflichten, die noch nie dabei waren, nicht zählen können oder einfach kein Interesse haben. Den anderen muß man nicht erklären, wo man mit einem Wahlschein wählen darf, daß die Zahl der eingesammelten Benachrichtigungen völlig irrelevant ist, daß keine Chemikalien in die Wahlmülltonne gehören, Hakenkreuze ungültig sind und nicht ewig nach Abweichungen gesucht werden muß, weil so und so alles nachgezählt wird. Bei der nächsten Wahl in drei Monaten können Sie dieses wahldemokratische Herrschaftswissen an die Neulinge weitergeben.

Ich entnehme Ihrem Bericht auch positive Eindrücke. Wo sonst erlebt man ein parteiübergreifendes Kleinbiotop, das sich allgemeinen bis albern wirkenden Grundsätzen der Demokratie und ihren heiligen Wahlen mehr verpflichtet fühlt als den politischen Gegensätzen? Denn letztlich stehen sich die örtlichen Parteien und deren Funktionäre auch nicht feindlicher gegenüber als Fußballvereine. Wie Turniere schweißen Wahltage eher zusammen gegen eine feindliche Welt derer, die nicht wissen wie man ein Kreuz macht.

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Von Chemikalien und bösen Kreuzen war bei uns gar nicht die Rede, obwohl drei Neulinge dabei waren (insgesamt waren wir zu siebt). Sie hätten uns aber lieber einmal erklären sollen, welche Chancen die Leute haben, noch mitzuwählen, die überraschend am Vortag ins Krankenhaus gekommen sind. Eine Frau erkundigte sich nach Briefwahlmöglichkeiten, ihre Mutter hätte überraschend am Vortag operiert werden müssen. Die Stadtverwaltung habe gesagt, Briefwahl ginge nicht mehr. Sie wollte auch nicht warten, bis die Stellvertreterin aus der Zigarettenpause wiederkam, die hätte gewusst, was zu tun ist. Wir wussten es nicht.

Die anderen waren auch deshalb so schnell, weil es ein kleinerer Wahlbezirk ist.

So, wie sich Schröder in der Elefantenrunde aufführte, hatte ich auch schon kurz die Befürchtung, dass ich bald wieder im Wahllokal sitzen darf.

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Ich weiß nicht, ob das heute noch so geht, ich kann mich aber erinnern, daß wir mit einem kleinen Mülleimer Stimmen auch zu Hause entgegen genommen haben. Das kann man aber nicht mehr am Wahltag selbst regeln. Und es sind nicht nur die gar traurigen ins Krankenhaus eingelieferten Fälle, sondern auch jede schnöde Verspätung oder Fernreise. Ein ähnliches Problem besteht für Gefängnisinsassen mit bürgerlichen Ehrenrechten.

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Von fliegenden Wahlurnen weiß ich nichts. Jene Frau hätte zum Wahlamt gemusst, dann mit den Unterlagen zu ihrer Mutter ins Krankenhaus, um sie schließlich wieder direkt beim Wahlamt abzugeben.

Können denn Gefängnisinsassen, die stimmberechtigt sind, denn keine Briefwahl machen?

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Mir ist nicht mehr geläufig, ob man noch am Wahltage selbst einen Wahlschein bekommen kann, weil das dann zur Verhinderung doppelter Stimmabgabe ins Wählerverzeichnis einzutragen wäre.

Gefängnisinsassen können sich natürlich für Briefwahl entscheiden, müssen es aber meines Wissens nicht. Sie wählen im Gefängnis. Ihre Stimmen kommen in einen kleinen Mülleimer, der dann in die große Tonne geleert wird.

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