Donnerstag, 2. Juni 2005
Hommage
Wir hatten schon einen Weile geduldig an der Museumskasse gewartet, gleich sollten wir an der Reihe sein. Doch ehe wir uns versahen, drängte sich ein kleiner alter Herr vor und verlangte eine Eintrittskarte. Während ich noch etwas perplex schaute, hatte ihn meine Bekannte schon erkannt, und als der Herr sich mitsamt seiner Eintrittskarte zum Gehen wandte, sagte sie belustigt zu ihm: Alter geht vor Schönheit, oder wie?
Für einen kurzen Moment machte er ein leicht verlegenes Gesicht, dann entgegnete er: Dasss Sie schönerrr sind als ich, dasss können Sie wohl nicht bestrrreiten.

Was sollten wir sagen? Er hatte recht. Und seit damals ist er heute nochmals ein Dutzend Jahre älter geworden.

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Freitag, 20. Mai 2005
Knüppel aus dem Sack
Die von mir sehr geschätzte Frau Modeste hat mir ein Stöckchen zugeworfen, nicht ahnend, in welchen Entscheidungsstress sie mich damit bringen würde. Aber gut, ich versuche es.

1. Du steckst in der Welt von Fahrenheit 451, welches Buch möchtest Du sein?

Mein Herz so weiß von Javier Marias, obwohl der Ich-Erzähler im Grunde unsympathisch ist. Aber ein Buch, das mit dem Satz anfängt:

"Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte."

finde ich unwiderstehlich. Stilistisch ist das später entstandene Morgen in der Schlacht denk an mich zwar noch besser und beginnt auch mit einem großartigen Satz: "Niemand denkt je daran, daß er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte und daß er nicht mehr ihr Gesicht sehen wird, an dessen Namen er sich erinnert", aber Idee und Plot gefallen mir in Mein Herz so weiß besser.

Außerdem würde ich noch versuchen, wenigstens ein paar Erzählungen aus Seltsam wie die Liebe von Barbara Gowdy auswendig zu lernen.

2. Warst Du je in eine Figur aus einem Buch verknallt?

Früher regelmäßig. So regelmäßig, dass ich nicht mehr weiß, wer der erste war. Krabat war aber mit Sicherheit dabei.

3. Welches Buch hast Du zuletzt gekauft?

Für mich? Leo Perutz Der Judas des Leonardo und Charles Todd Search the Dark (ein Inspektor mit Schützengrabenneurose, der ständig von dem Geist seines ehemaligen Corporal Hamish MacLeod begleitet wird, den er wegen Befehlsverweigerung an der Front erschießen ließ - die Geschichte spielt nach dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien, falls sich jetzt gerade jemand gewundert haben sollte). Beides war Zuglektüre.

4. Welches Buch hast Du zuletzt gelesen?

Den Perutz. Leonardo da Vinci fehlt für sein Gemälde Das Abendmahl im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie noch das Modell für den Kopf des Judas. Auf seiner Suche nach dem "allerschlechtesten Menschen von ganz Mailand" stößt er schließlich auf den böhmischen Kaufmann Joachim Behaim, der aus Stolz einen Verrat an seiner eigenen Liebe begeht.

5. Welches Buch liest Du gerade?

Heute morgen im Bett las ich das erste Kapitel von Tanz ums Grab von Nigel Barley, liegt ja schon lang genug bei mir auf dem Fußboden herum. Ich habe kein Platz mehr in den Regalen und auch kein Platz mehr für Regale, also liegen die von der Freundin geliehenen Bücher ordentlich gestapelt auf dem Boden - sie macht es mit meinen Büchern genauso. Die gegenseitige Ausleiherei soll natürlich nur Platz schaffen ;-), aber irgendwie haut das nicht wirklich hin, zumal sie mehr Bücher kauft als ich. Außerdem lese ich gerade wieder einmal in Alltägliche Abgründe - Reportagen von Jana Simon -, und in Hier und dort. Neulich vor langer Zeit. Erzählungen aus der DDR 1970-1990.

Ebenfalls vor einiger Zeit angefangen: John von Düffel Vom Wasser, das Lieblingsbuch einer anderen Freundin. Sprachlich sehr schön, aber leider arm an Dialogen (der Mann ist Theaterautor!), deshalb bin ich vorerst auf Seite 64 hängen geblieben. Wird wohl einen Neustart erfordern.

Ich bin nicht nur Parallelleserin, sondern auch noch eine von der schrecklichen Sorte. Soll heißen, dass ich für gewöhnlich das Ende lese, bevor ich so weit bin. Meine jüngere Schwester hasst das und bekam früher Zustände, wenn sie es mitbekam, aber das hat mich nie davon abgehalten. Meistens lese ich immerhin Dreiviertel des Buches, bevor ich es tue. Entgegen der weitverbreiteten Annahme wird das Buch dadurch nicht weniger spannend, ich genieße um so mehr den Aufbau. Es gibt natürlich auch Bücher, da muss ich vorblättern, um zu sehen, ob es überhaupt noch lohnt, weiterzulesen. Das sind die Bücher, die nicht so recht in Schwung kommen oder gar langweilig sind (ich sag nur Strategie, was für ein blödes Buch). Ein großartiges Ende ist übrigens Hemingway in Fiesta gelungen, ein fabelhafter letzter Satz, wohingegen der erste Satz dieses Buches ziemlich öde ist.

6. Welche fünf Bücher nähmst Du mit auf eine einsame Insel?

Immer im Gepäck habe ich ein kariertes DinA 5-Heften zum vollkritzeln. Kariert ist klasse.

Von meinen Büchern nähme ich die Tucholsky-Gesamtausgabe und die Gesammelten Werke von Paul Celan mit. Einen Thriller von Anthony Price, hm, schwierige Entscheidung, vielleicht Geister von morgen. Wo sonst bekommt man das England der ausgehenden 1970er, IRA, Geheimdienst, ein düsteres Märchen und nebenbei noch die Tolkien-Forschung serviert? Ebenfalls einpacken würde ich von Tony Hillerman Skinwalkers. Navajos und Hexerei, alles in einem Krimi, wunderbar. Für Aufenthalte auf einsamen Inseln völlig sinnlos, aber von hohem Unterhaltungswert für meine Phantasiereisen: Ein ADAC-Maxiatlas Deutschland, Maßstab 1:150.000. Der letzte darin aufgeführte Ort heißt übrigens Zwota und liegt in Sachsen, zwischen Elster- und Erzgebirge, unweit der Grenze zu Tschechien. Sehen Sie, wieder etwas gelernt!

Tucholsky und Celan zählen jeweils als eins, sind schließlich alles Taschenbücher. Außerdem gehöre ich zu den schrecklichen Lesern, da ist das ja wohl klar, dass ich mich auch hierbei nicht an die Regeln halte. Oder braucht’s eine astro-technische Begründung? Demnach dürfte ich eigentlich zehn Bücher mitnehmen (Giorgio Bassani Die Brille mit dem Goldrand und Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz von Fruttero & Lucentini wären dann vielleicht auch dabei.)
Und was soll ich eigentlich auf einer einsamen Insel?

Am besten schaffe ich das Stöckchen jetzt 'mal außer Landes: Zum einen werfe ich es dem Geist des russischen Anarchisten zu (in der Hoffnung, dass das Ding kein Bumerang ist), zum anderen dem Herrn, der in London lebt (keine Ahnung, ob er diese Listen überhaupt leiden kann, aber schließlich wohnte ich auch einmal ein paar Monate dort, darum). Und schließlich noch zu frau_wundersam, die zwar nicht im Ausland, aber auch in einer schönen Stadt lebt und bislang noch Nichts zugeworfen bekam (dabei hat sie zwei sehr schöne Fotos in meinem liebsten Fotoblog gepostet).

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Donnerstag, 28. April 2005
Die Häuser der Puppen
Um möglichst viele Vorwände für sexuelle Darstellung zu garantieren, spielen zahlreiche der italienischen und französischen Exploitationfilme in Bordell-Camps, in denen die meist weiblichen Gefangenen ihren Aufsehern und Kapos zu "Liebesdiensten" zur Verfügung stehen müssen. Hier kommt es oft zu der unwahrscheinlichen Situation, daß sich SS-Leute wahllos mit Gefangenen "amüsieren", was ihnen aus "eugenischen" Gründen strikt untersagt war. Der Phantasie des Exploitationfilmers scheinen keine Grenzen gesetzt: Es kommt zu lesbischen Beziehungen (Deportate), Beziehungen zwischen Wachtposten und Häftlingsfrau (SSadi Kastrat Kommandantur), zu sadomasochistischen Happenings (Train spécial) und Massenvergewaltigungen (Ultima Orgia). In Salon Kitty und KZ 9 kommt auch erzwungener Beischlaf mit körperlich bzw. geistig behinderten Menschen vor.

- Marcus Stiglegger: Sadiconazista -
Stereotypisierung des Holocaust im Exploitationkino
-

Unwahrscheinliche Situation... Ach ja?

Jeden Tag, pünktlich um zwei Uhr, kamen deutsche Soldaten aus den umliegenden Garnisonen. Sie waren unterwegs zur russischen Front und vergnügten sich mit den Mädchen vom Puppenhaus. Die Mädchen mussten alles geben, um ihre hochgeschätzten Gäste zu befriedigen. Ein Gast, der nicht zufrieden war mit dem "Vergnügen", konnte dies im Hinausgehen bei der Aufsicht melden. Er brauchte nur die Nummer auf der Brust des Mädchens anzugeben. Nach drei "Meldungen" war das Mädchen automatisch zum Tod verurteilt: Sie hatte sich der Ehre, die ihr zuteil geworden war, nicht würdig erwiesen. Sie hatte einen deutschen Krieger lächerlich gemacht.

- Ka-Tzetnik 135633 (eigentlich Yehiel De-Nur): Das Haus der Puppen -

De-Nur überlebte zwei Jahre Auschwitz, seine Schwester nicht. Sie war dort zunächst in die "Abteilung Arbeit" selektiert, dann aber in die "Abteilung Freude" geschickt worden. Auf ihren Tagebuchfragmenten basiert dieses Buch, das 1956 auf Englisch erschien und weltweit über fünf Millionen mal verkauft wurde.

Doch auch für den KZ-Häftling war gesorgt.

Für notwendig halte ich allerdings, daß in freiester Form den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden.

- Heinrich Himmler -

So erzählte Jorge Semprun in Was für ein schöner Sonntag auch vom Lagerbordell in Buchenwald. Nannte sogar die Namen der Frauen. Zwei Reichsmark kostete ein Besuch im KZ-Bordell. Das berichtete der ehemalige Buchenwald-Häftling Eugen Kogon in seinem Buch Der SS-Staat.

Und Sie glaubten, nur der Phantasie der Exploitationfilmer seien keine Grenzen gesetzt, Dr. Stiglegger? Dass Ihre dafür nicht ausreichte, ehrt Sie - als Filmwissenschaftler hätten Sie das jedoch nachrecherchieren müssen. Die Quellen waren mittlerweile vorhanden, Christa Pauls Buch Zwangsprostitution - staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus (Edition Hentrich, 1994) erschien fünf Jahre vor Ihrem Buch, sieben Jahre vor Ihrem Vortrag, auf dem Ihr Artikel im Ikonenmagazin basiert.

Christa Paul und Reinhild Kassing haben mit Überlebenden dieser Lagerbordelle gesprochen, eine von ihnen, die 1990 in Hamburg starb, kommt in dem Hörfunkfeature Frontbordelle. Die Nazis und die Prostitution von Tita Gaehme zu Wort.

Ach ja: Was es mit den koreanischen "Comfort Women" in japanischen Lagern auf sich hatte, und wie die meisten von ihnen zu Tode gekommen sind, das recherchieren Sie jetzt aber bitte selbst. Google genügt.

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Dienstag, 19. April 2005
Blassgraue Frauenschriften
Weißt Du, daß es außer den über dreißig Farben in einem Farbtub-Kasten noch eine weitere für Menschenaugen sehr wohl sichtbare Farbe gibt - die der Traurigkeit?

- Yasushi Inoue: Das Jagdgewehr -

Ein Mann und drei Abschiedsbriefe: von seiner Frau, seiner Geliebten und deren Tochter. Eine Geschichte von Einsamkeit. Und natürlich von Liebe, Untreue und Tod.

Manchmal graut mir vor dem Tag, an dem ich die Briefe finden werde. Von seiner Frau, seiner einstigen Geliebten und seiner Tochter.

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