Mittwoch, 26. April 2006
Gewöhnlicher Beifuß
Es war ein schöner Tag, daran erinnere ich mich genau. Am Vormittag hatte es noch gar nicht so ausgesehen. Lotte und Jan hatten mich mit dem Auto abgeholt, wir fuhren zu einem See, den ich nicht kannte. Lotte hatte einen Picknickkorb gepackt, und wir fanden am See auch einen Platz ganz für uns allein. Am Ufer wuchsen Büsche und irgendwelche Kräuter, und wir lagen glücklich im Gras. Mittags wurde es so warm, dass Lotte und ich unsere Pullover auszogen. Darunter trug ich ein helltürkises T-shirt, auch daran erinnere ich mich noch genau, ich mochte es sehr. Lotte trug ein kirschrotes, es stand ihr gut zu ihren dunklen Haaren. Irgendwann sind wir beide in der Sonne eingeschlafen, während Jan ein Stück weiter oben am Hang saß und auf den See hinausschaute. Als wir später aufwachten, waren meine Arme und mein Gesicht leicht gerötet, weil ich mich nicht mit Sonnencreme eingecremt hatte, das passiert mir sonst eigentlich nie. Die Sonne war weitergewandert und uns wurde kühl im Schatten, also brachen wir auf. Erst auf dem Heimweg hörten wir im Radio, was geschehen war in jener fernen Stadt, die nach dem gewöhnlichen Beifuss benannt war.

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Es geschah zur Zeit der Kirmes bei uns da oben, und Nachrichten kamen im Radio auf dem Weg nach Hause, als wir aber schon durch den Platzregen getroedelt waren. Gebrannte Mandeln als Geschmack des Untergangs. Dann von Mutter zum Abschrubben ins Bad befohlen. Noch mit jugendlicher Faszination an das Ausmass der Explosion gedacht. Tags darauf traurig, weil nun Erdbeeren in Verruf gerraten waren.

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War das bei Ihnen auch am 1. Mai, Herr Gheist? An dem Tag erfuhr ich erst von dem wahren Ausmaß, vorher waren es nur die Meldungen gewesen, anfangs noch ganz klein, dass man in Skandinavien erhöhte Werte gemessen habe, die Behörden wiesen darauf hin, dass Menschen nicht gefährdet seien - aber da leugnete der Kreml ja noch. Dann war von einem "Zwischenfall" die Rede gewesen, da waren die Meldungen schon größer. Am 30. April spielten die sowjetischen Behörden die Katastrophe immer noch herunter, und das Bundesinnenministerium untersagte den Meterologen des Deutschen Wetterdienstes, die aktuellen Messwerte der Radioaktivität bekannt zu geben.

Ja, die Erdbeeren. Und in den Läden war plötzlich die H-Milch, die wir normalerweise kauften, ausverkauft. Da haben sie halt die Milch mit unbelasteter gestreckt. In Bayern wurden mehr Abtreibungen als sonst vorgenommen. Später kursierte dann die Geschichte vom Jäger - stets war's "der Freund eines Freundes" -, der Jäger also hätte ein vor der Havarie geschossenes Wildschwein eingefroren und im Juni untersuchen lassen, und das sei viel höher belastet gewesen, das alles sei doch nur Panikmache usw. usf. Auf den Körbchen mit Pfifferlingen aus Litauen oder Polen steht heute noch, dass Fresenius die untersucht hat.

Gebrannte Mandeln als Geschmack des Untergangs.

Wie schön Sie das gesagt haben. Und irgendwie passt das gut. Wonach sonst sollte Untergang eigentlich schmecken?

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Im Sinne der ueberhoehten Dramatik kam das natuerlich alles auf einen Schlag, Frau Arboretum: Gussregen, Wasser steht bis zur Gehsteigkante hoch, Malzmueller-Wiesen Matschloch innerhalb von Minuten, Mandelkauf, Autofahrt, Radionachrichten, Radioaktivitaetpanik. So legt mir die Erinnerung das zurecht, der man wohl misstrauen darf, und, da ich zu der Zeit grad erst der Autoscooterphase entfleucht, damt auch der einhergehenden Verdichtung der Ereignisse. Nur so erinner ich es wirklich. Ans Datum allerdings nicht. Was damals auch so spannend war, endlich passierte mal was, Untergang als Lustangebot, dazu noch unsichtbar - Ersatz fuer den Verlust des Uebernatuerlichen? Und wer im Dreieck Stade, Brunsbuettel, Brokdorf aufwaechst, den schreckt so ein bischen schleichender Tod ohnehin nicht ab, dafuer hamwa die Deiche ja hoeher gebaut. Radfahren in "verseuchter" Landschaft war unheimlich toll. So auch die Photos Jahre nach der Katastrophe, eine menschenlose Welt in den "wirklichen" Rhytmus des Seins zurueckgekehrt. Aber ich gerat ins Schwaermen.
ps. ein toller tip zum "Eintritt" in die Zone waere Wolves Eat Dogs von Martin Cruz Smith.

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Was mir bei dem siebten Foto sehr zu denken gibt, ist der offenkundig noch leergeräumte Operationssaal. Wo landete die Ausstattung und strahlt jetzt fröhlich vor sich hin?
Einst hatte ich einmal einen sibirischen Freund, der mir anfangs einmal erzählte, er habe eine Rippe zuviel. Als ich ihn daraufhin erstaunt ansah, zuckte er mit den Schultern und nannte nur die Nummern in der Nähe seiner Heimatstadt. Ich kann mich aber nicht mehr daran erinnern, ob er auf jeder Seite eine Rippe zu viel hatte.

Wolves Eat Dogs kenne ich bislang nicht, ich habe nur Gorki Park gelesen und die Verfilmung gesehen, wobei ich mit diesem Park eher eine andere russische Liebe verbinde. Vielen Dank für den Hinweis.

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Bei YouTube gibt es übrigens ein Filmchen namens "Tale of Chernobyl (Černobilio katastrofa)" mit Musik von Viktor Tsoi/Kino.

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Artemisia vulgaris?

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Ja, das ist der lateinische Name, auf Russisch heißt er Чернобыльник, Tschernobylnik.

Und wie schön, Sie hier zu sehen. Das freut mich sehr.

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ich weiß nur mehr, dass ich ein paar tage später mit meiner mutter und meiner schwester zu fuß zum vorgeschriebenen maibaumsetzen ins nächste dorf gestiefelt bin und wir, obwohl es nur nieselregnete, einen großen regenschirm nahmen. es war eher sehr mühsam, zu dritt da unter einem schirm. nur nicht nass werden! - tapfer jedenfalls die dörfler, wegen so ein bisschen atomregen lässt dort niemand das maibaumsetzen ausfallen. meine mutter ging trotzdem das ganze jahr nicht schwammerlsuchen; konnte man ja alles nicht essen.

aber mir kam das normal vor, schließlich hatte die schule, auf die ich eben gewechselt hatte, ja auch einen atombunker. zivilschutzunterricht mit schmalfilmen, wie man im bunker die monate nach der bombe überlebt. wieviel wasser man lagern muss, welche medikamente. when the wind blows, lief das schon im kino? und die vorstellung, mit meiner neuen klasse monatelang im keller festzusitzen. was danach wäre, habe ich mir dann schon gar nicht mehr ausgemalt. alpha-, beta- und gammastrahlen. halbwertszeit.

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Hui, Frau Gingerbox, was war das denn für eine Schule, dass die einen Atombunker hatte und es Zivilschutzunterricht gab?

Ich habe nur einige Jahre in einem Haus gewohnt, das einen Bunker hatte, aber ich durfte da als Kind nie hinein, dabei wollte ich doch so gerne mal schauen, wie es da drin aussieht. Im Keller war diese riesengroße, orangefarbene Tür mit einem seltsamen, schwenkbaren großen Riegel davor. Einmal ließ uns mein Vater hineingucken, dahinter war ein dunkler Gang. Im Garten gab es einen künstlichen Hügel, darauf war oben eine große, viereckige Betonplatte, das war der eine Ausgang. Der andere war seitlich am Haus, davor war eine Nische gemauert. Meine Mutter hat noch ein Foto, darauf sieht man das. Meine ältere Schwester erzählte an Ostern, dass sie den Bunkermit einem unserer Cousins erkundet hätte. Und mich hatte sie wieder einmal nicht mitgenommen.

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das war das gymnasium der bezirkshauptstadt, damals sehr fortschrittlich im vergleich zu den stiftsgymnasien rundherum. wir haben diskutiert, brav müll getrennt und im biogarten gemüse gezogen. im bunker wurde hauptsächlich theater gespielt. einmal bin ich um zwei uhr nachts dort an einem tisch gesessen und hab eine etappe der vollständigen verlesung von 100 jahre einsamkeit übernommen, im publikum saß nur mehr ein kollege und schnarchte, bis eine stunde später wieder ein paar übernächtige mädels mit weinfahne hereinwankten und weitermachten. ein andermal hat die theatergruppe die verfolgung und ermordung jean paul marats dort gespielt, was unserem religionslehrer in seiner rolle als marquis de sade (!) erlaubte, sich in einer szene seines hemdes zu entledigen und sich, wenn auch nur in effige, auspeitschen zu lassen. ich muss sagen, dass gerade dieser abend mein interesse fürs, äh, theater doch nachhaltig gefördert hat. - ihre kindliche neugier für die vorgänge in bunkern, liebe frau arboretum, war also durchaus berechtigt, aber ebenso berechtigt und weise war wohl die vorsicht ihrer eltern ;-)

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Ich frage mich gerade, welcher Konfession Ihr Religionslehrer wohl angehört(e). Mit Geißelung haben es ja eher die Katholiken.

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da haben sie ganz richtig vermutet. (soviel zum thema fortschrittliche schule.)

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Ich kann mich nicht mehr konkret an die Ereignisse erinnern. Nur daran, dass Wettervorhersagen plötzlich lebenswichtig waren, an lauter neue Wörter wie Cäsium, Isotop, Becquerel und dass von Pilzen, Selbstgeerntetem aus dem Garten und Spielplatzsand plötzlich eine unsichtbare Gefahr ausgehen sollte. Und, ja, irgendwie passte das in diese Zeit, in der der strahlende Untergang ja ohnehin beschlossene Sache schien. Nur gingen ihm in meiner Vorstellung zuvor Krieg, Lichtblitz und Feuersturm voraus.

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Ja, da liefen sogar 9 jährige Pimpfe wie ich durch die Gegend und sangen "Becquerel..., Becquerel fliegt durch das Fell". Typisch sinnloser Kindergesang - obwohl...*grübel*
Und auf einmal hatte mein Vater einen Geigerzähler besorgt und hielt es auf alles drauf was lustig knisterte. Ich glaub für mich hat auch eindeutig die Spannung dieser Zeit überwogen. Für Panik war das alles zu unsichtbar, so ganz ohne grüne, dicke Nebelschwaden und hustender Menschen. Das blödeste war das jahrelange Erdnuss und damit auch Nutellaverbot...;-(

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Vermutlich sahen Sie damals auch The Day After im Kino, Herr Bluesky. Irgendwie brachten meine Freunde und ich nicht sehr viel Mitleid mit dem amerikanischen Mädchen auf, das die Hauptfigur war. Wir sahen der ganzen Geschichte ziemlich unbeteiligt zu, nachdem nach der ersten Viertelstunde verkündet wurde, dass unsere Stadt Ziel einer sowjetischen Atomrakete gewesen wäre.
Es gab ja damals auch diese hübschen Infografiken in den Zeitungen, da konnten wir immer ganz beruhigt sein, dass wir nach dem Fall der Bombe sofort tot sein würden, folglich mussten wir uns gar keine Gedanken mehr über Wasser- und Lebensmittelvorräte machen. Geschweige denn, wie wir es monatelang mit Leuten, die nicht zu unseren Freunden zählten, im Bunker ausharren könnten. Hat auch Vorteile sowas.

Und Ihr Lied, Herr Zampano, klingt großartig. Heute wären Sie damit ein Star geworden, schließlich stürmen auch Krokodile die Charts. Ihr Text macht da viel mehr her.
Hatte sich Ihr Vater den Geigerzähler extra gekauft? Und wann hat er den eigentlich zum letzten Mal benutzt?

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Vielleicht haben Sie recht - ein kleines *Tsching* hier, ein paar *Bumm* *Bumm* da und noch jemanden in ein kleines aber feines Becquerelkostüm gesteckt - fertig ist der neue Hit. In zwei Wochen werden sie den Ohrwurm nicht mehr aus den Ohren bekommen.

Hmm....Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wo mein Vater das Ding her hatte. Gekauft hat er es sich sicherlich nicht, der alte Knauser. Ich vermute er hatte es sich von einem Bekannten ausgeliehen. Seit der Zeit damals hab ich das Gerät nie wieder gesehen. Eigentlich schade. Irgendwie wars lustig zu sehen wie unterschiedlich die Dinge so gestrahlt haben und das Knattern und Knistern hatte auch was für sich. Das ist wahrscheinlich so ein ähnliches Gefühl, wie mit einem Metalldetektor nach Schätzen zu suchen. Nur halt etwas morbider...

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Ein herzliches Willkommen auch Ihnen, das hatte ich eben vor lauter atomarer Strahlung peinlicherweise vergessen zu sagen.

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Becquerel..., Becquerel fliegt durch das Fell
Wir sollten Ihr Liedchen zum Gedenken anstimmen, Herr Zamapano, heute vor 100 Jahren starb Monsieur Becquerel.

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Oh, eine Stimme aus der Vergangenheit.
("Becquerel" klingt wie ein isotropischer Joghurt.)

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Ab und an muss auch im Wald mal ein bisschen umgegraben werden.

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