Freitag, 20. Mai 2005
Knüppel aus dem Sack
Die von mir sehr geschätzte Frau Modeste hat mir ein Stöckchen zugeworfen, nicht ahnend, in welchen Entscheidungsstress sie mich damit bringen würde. Aber gut, ich versuche es.

1. Du steckst in der Welt von Fahrenheit 451, welches Buch möchtest Du sein?

Mein Herz so weiß von Javier Marias, obwohl der Ich-Erzähler im Grunde unsympathisch ist. Aber ein Buch, das mit dem Satz anfängt:

"Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte."

finde ich unwiderstehlich. Stilistisch ist das später entstandene Morgen in der Schlacht denk an mich zwar noch besser und beginnt auch mit einem großartigen Satz: "Niemand denkt je daran, daß er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte und daß er nicht mehr ihr Gesicht sehen wird, an dessen Namen er sich erinnert", aber Idee und Plot gefallen mir in Mein Herz so weiß besser.

Außerdem würde ich noch versuchen, wenigstens ein paar Erzählungen aus Seltsam wie die Liebe von Barbara Gowdy auswendig zu lernen.

2. Warst Du je in eine Figur aus einem Buch verknallt?

Früher regelmäßig. So regelmäßig, dass ich nicht mehr weiß, wer der erste war. Krabat war aber mit Sicherheit dabei.

3. Welches Buch hast Du zuletzt gekauft?

Für mich? Leo Perutz Der Judas des Leonardo und Charles Todd Search the Dark (ein Inspektor mit Schützengrabenneurose, der ständig von dem Geist seines ehemaligen Corporal Hamish MacLeod begleitet wird, den er wegen Befehlsverweigerung an der Front erschießen ließ - die Geschichte spielt nach dem Ersten Weltkrieg in Großbritannien, falls sich jetzt gerade jemand gewundert haben sollte). Beides war Zuglektüre.

4. Welches Buch hast Du zuletzt gelesen?

Den Perutz. Leonardo da Vinci fehlt für sein Gemälde Das Abendmahl im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie noch das Modell für den Kopf des Judas. Auf seiner Suche nach dem "allerschlechtesten Menschen von ganz Mailand" stößt er schließlich auf den böhmischen Kaufmann Joachim Behaim, der aus Stolz einen Verrat an seiner eigenen Liebe begeht.

5. Welches Buch liest Du gerade?

Heute morgen im Bett las ich das erste Kapitel von Tanz ums Grab von Nigel Barley, liegt ja schon lang genug bei mir auf dem Fußboden herum. Ich habe kein Platz mehr in den Regalen und auch kein Platz mehr für Regale, also liegen die von der Freundin geliehenen Bücher ordentlich gestapelt auf dem Boden - sie macht es mit meinen Büchern genauso. Die gegenseitige Ausleiherei soll natürlich nur Platz schaffen ;-), aber irgendwie haut das nicht wirklich hin, zumal sie mehr Bücher kauft als ich. Außerdem lese ich gerade wieder einmal in Alltägliche Abgründe - Reportagen von Jana Simon -, und in Hier und dort. Neulich vor langer Zeit. Erzählungen aus der DDR 1970-1990.

Ebenfalls vor einiger Zeit angefangen: John von Düffel Vom Wasser, das Lieblingsbuch einer anderen Freundin. Sprachlich sehr schön, aber leider arm an Dialogen (der Mann ist Theaterautor!), deshalb bin ich vorerst auf Seite 64 hängen geblieben. Wird wohl einen Neustart erfordern.

Ich bin nicht nur Parallelleserin, sondern auch noch eine von der schrecklichen Sorte. Soll heißen, dass ich für gewöhnlich das Ende lese, bevor ich so weit bin. Meine jüngere Schwester hasst das und bekam früher Zustände, wenn sie es mitbekam, aber das hat mich nie davon abgehalten. Meistens lese ich immerhin Dreiviertel des Buches, bevor ich es tue. Entgegen der weitverbreiteten Annahme wird das Buch dadurch nicht weniger spannend, ich genieße um so mehr den Aufbau. Es gibt natürlich auch Bücher, da muss ich vorblättern, um zu sehen, ob es überhaupt noch lohnt, weiterzulesen. Das sind die Bücher, die nicht so recht in Schwung kommen oder gar langweilig sind (ich sag nur Strategie, was für ein blödes Buch). Ein großartiges Ende ist übrigens Hemingway in Fiesta gelungen, ein fabelhafter letzter Satz, wohingegen der erste Satz dieses Buches ziemlich öde ist.

6. Welche fünf Bücher nähmst Du mit auf eine einsame Insel?

Immer im Gepäck habe ich ein kariertes DinA 5-Heften zum vollkritzeln. Kariert ist klasse.

Von meinen Büchern nähme ich die Tucholsky-Gesamtausgabe und die Gesammelten Werke von Paul Celan mit. Einen Thriller von Anthony Price, hm, schwierige Entscheidung, vielleicht Geister von morgen. Wo sonst bekommt man das England der ausgehenden 1970er, IRA, Geheimdienst, ein düsteres Märchen und nebenbei noch die Tolkien-Forschung serviert? Ebenfalls einpacken würde ich von Tony Hillerman Skinwalkers. Navajos und Hexerei, alles in einem Krimi, wunderbar. Für Aufenthalte auf einsamen Inseln völlig sinnlos, aber von hohem Unterhaltungswert für meine Phantasiereisen: Ein ADAC-Maxiatlas Deutschland, Maßstab 1:150.000. Der letzte darin aufgeführte Ort heißt übrigens Zwota und liegt in Sachsen, zwischen Elster- und Erzgebirge, unweit der Grenze zu Tschechien. Sehen Sie, wieder etwas gelernt!

Tucholsky und Celan zählen jeweils als eins, sind schließlich alles Taschenbücher. Außerdem gehöre ich zu den schrecklichen Lesern, da ist das ja wohl klar, dass ich mich auch hierbei nicht an die Regeln halte. Oder braucht’s eine astro-technische Begründung? Demnach dürfte ich eigentlich zehn Bücher mitnehmen (Giorgio Bassani Die Brille mit dem Goldrand und Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz von Fruttero & Lucentini wären dann vielleicht auch dabei.)
Und was soll ich eigentlich auf einer einsamen Insel?

Am besten schaffe ich das Stöckchen jetzt 'mal außer Landes: Zum einen werfe ich es dem Geist des russischen Anarchisten zu (in der Hoffnung, dass das Ding kein Bumerang ist), zum anderen dem Herrn, der in London lebt (keine Ahnung, ob er diese Listen überhaupt leiden kann, aber schließlich wohnte ich auch einmal ein paar Monate dort, darum). Und schließlich noch zu frau_wundersam, die zwar nicht im Ausland, aber auch in einer schönen Stadt lebt und bislang noch Nichts zugeworfen bekam (dabei hat sie zwei sehr schöne Fotos in meinem liebsten Fotoblog gepostet).

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Der großartige Perutz, dem sollte man Kränze flechten, ich liebe alle seine Bücher, insbesondere Den Meister des Jüngsten Tages und Nachts unter der steinernen Brücke.

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Der Meister des Jüngsten Tages war mein erstes von ihm. Der schlesische Reiter ist auch zu empfehlen. Ich freu mich sehr, dass er jetzt wiederentdeckt wird und hoffe, es gibt Erben, die Tantiemen kassieren.

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Mit dem von Düffel kämpfen Sie schon etwas länger, oder irre ich da? Die Mogelpackung Gesammelte Werke hatte ich auch überlegt, selbstverständlich Tucholsky, eventuell Hesse. Kennen Sie das Hörbuch mit Celans Liebesbriefen an seine Frau? Hat mir ein edler Verehrer einst geschenkt. Undglaublich schön.

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Nein, Sie irren nicht, mittlerweile ist die Pause so lang, dass ich wohl von vorn anfangen müsste. Peinlich, denn jene Freundin, die es mir schenkte, wollte neulich wissen, wie es mir gefiele. Ich besitze nur den Briefwechsel zwischen Celan und Nelly Sachs, kenne aber die Liebesbriefe nicht, auch nicht als Hörbuch. Überhaupt habe ich nur drei Hörbücher, darunter Geschichten von Bukowski und Slezar sowie eins mit drei Schauergeschichten mit Musik. Habe ich alle geschenkt bekommen.

Kennen Sie Unser ungelebtes Leben, Tucholskys Briefe an Mary?

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Vielleicht ist der van Düffel einfach nicht reif. Lassen Sie ihn schlummern. Der Briefwechsel Sachs-Celan ist schön. Aber diese tragischen Männer mit suizidaler Tendenz treffen meinen Nerv von jeher. Wie durchschaubar ich bin, schrecklich. Ich habe eben bei Amazon nachgesehen und dieses wunderbare Hörbuch nicht gefunden. Vielleicht ist es, genau wie mein Galan, schon zu lange her.

Ich habe kaum Hörbücher, vorlesen lasse ich mir lieber von jemandem aus Fleisch und Blut. Sie ja auch. Ich bin übrigens eine von den Frauen, die Bukowski gut erträgt. Und hätte es eine Top 10-Abfrage der Lieblingsbücher gegeben, wäre ich um Henry Millers "Clichy" nicht herumgekommen.
"Unser ungelebtes Leben" werde ich gleich mal bei der ZVAB erschnüffeln, klingt als ob es in meinen Haushalt gehört. Ich danke.

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Von Miller las ich als Teenie nur mal einen der Wendekreise, weiß aber nicht einmal mehr, welchen. Und aus Anais Nins Delta der Venus bekamen eine Schulkameradin und ich 'mal von einer Mitschülerin (Typ: Cosmopolitan-Leserin) mit bedeutsamer Miene ein paar Passagen vorgelesen, was aber aufgrund der kitschigen Beschreibungen - ich erinnere mich dunkel an irgendwelche Knospen, Tropfen und ähnlichen Kram -, nicht dazu führte, dass wir wie beabsichtigt maßlos von der Vorleserin beeindruckt waren, sondern nur zu mittleren Lachanfällen. Seither habe ich ihr Werk irgendwie als Prono-Kitsch abgespeichert.
Außerdem habe ich irgendwo einmal die Schilderung von Anais Nin gelesen, wie quengelig Henry Miller wurde, wenn er an die Schreibmaschine wollte, obwohl sie eigentlich dran war, so dass sie regelmäßig nachgab. Ach ja, und natürlich kenne ich Kate Millets Auseinandersetzung mit Miller in Sexus und Herrschaft, das las ich noch vor dem Wendekreis. Im Alter von 16 bis 18 las ich mich mal ziemlich durch den feministischen Kanon, irgendwo müsste ich eigentlich noch S.C.U.M. von Valery Solanas, der Frau, die auf Andy Warhol schoss, herumstehen haben.

Nachtrag: Nein, habe ich anscheinend nicht mehr. Ich habe 'mal vor irgendeinem Umzug einen Haufen Bücher der Stadtbibliothek vermacht, wahrscheinlich war das auch dabei.

Nachtrag 2020: Jenes Buch tauchte vor drei Monaten wieder auf, ich hatte noch einige Bücher bei meiner Mutter deponiert. Den von Düffel habe ich übrigens nicht mehr gelesen, sondern mich irgendwann davon getrennt.

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O ja, Leo Perutz. hat auch so eine dunkle Magie, diese Vexierspiele mit Wahn und Wirklichkeit. In eine ähnliche Reihe könnte man auch Pitigrilli stellen. Kokain oder Die Jungfrau von 18 Karat. Böse Liebesgeschichten allesamt. Anaïs Nin ist wirklich recht süßlich in ihren amourösen Geschichten. Keine Ahnung, wie ich es heute fände, es ist schon etliche Jahre her, daß ich sie las.

S.C.U.M. habe ich hier noch stehen, ein, äh, beeindruckendes Werk. Wie die meiste Pamphletliteratur eine Schrift mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum. Heute hätte sie ein Blog. Im Gestus vielleicht gar nicht mal so weit von Miller entfernt - wenn man jetzt mal beide als Befreier von Konventionen sehen will. Literarisch war Miller dann allerdings doch potenter talentierter. Wenn er nicht gerade herumpolterte oder leichten Damen in Paris nachstieg, war er ja zu bemerkenswert sensiblen Darstellungen fähig. (War aber nicht seine Aufgabe.)

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Ooh. Herr Zeigermann hat mir das Stoeckchen auch schon einmal zugeworfen. Ich apportier nur sehr schlecht. Ich fand den Truffaut Film ganz ganz unertraeglich.
Meine Liste bleibt verschwiegen, Buecher behandel ich beruflich, ich wohne bereits auf einer einsamen Insel, etc. *Apologies*
Der Eingangssatz von J.Marias ist grossartig.

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Dass Herr Zeigermann bereits nach Ihnen warf, wusste ich nicht. Das andere hatte ich aber schon vermutet. Kein Problem, kann verstehen, dass Sie nicht mögen. Dann muss stattdessen stackenblochen daran glauben.
Den Truffaut-Film habe ich erst gesehen, als er anlässlich des Todes von Oskar Werner im Fernsehen wiederholt wurde, das Buch hatte mich als Teenager sehr gefesselt.

Die ganze Geschichte von Marias ist großartig.

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Der Herr aus London
hat das alles komplett verschlafen, fuerchte ich : )

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Von den Bäumen...
...kommt ein Stöckchen geflogen und auch wenn ich keine begeisterte Anhängerin von Kettengeschichten bin, habe ich die Fragen beantwortet.

Fotos, ob schön oder miserabel, wird es weiterhin geben, denn mittlerweile träume ich schon davon ein gutes Motiv im Auge zu haben und ausgerechnet dann ist keine Kamera dabei.

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Ach, das macht doch nichts, Sir. ;-)

Dass Sie trotz ihrer Abneigung geantwortet haben, frau_wundersam, weiß ich wirklich sehr zu schätzen (ich hatte vor meiner Abreise nur nicht mehr genügend Zeit, einen Kommentar in Ihrem Blog zu hinterlassen). Und ich freue mich auch schon auf Ihre nächsten Bilder.

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Es hat sich als motivierend erwiesen Ihre Bücherfragen zu beantworten, denn so hat Mode & Verzweiflung wieder ein wenig Futter bekommen - und weiteres ist in Arbeit.

Für neue Industriebilder habe ich wohl erst im Juli Zeit, aber auf meinen Festplatten schwirren möglicherweise noch alte Stücke herum ---

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Oh, das freut mich. Ich sah eben bei Mode & Verzweiflung, dass Sie ebenfalls kürzlich einige japanische Autoren gelesen haben. In meinem Fall waren es Oe, Yasushi Inoue und Koji Suzuki.

Ich bin gespannt auf Ihre Fotos. Wenn es länger dauert, steigert das nur noch die Vorfreude.

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Gut, dass Sie noch weitere japanische Autoren erwähnen. Ich bin gerade auf der Suche nach neuen Büchern. Danke.

So lange empfehle ich das Pixelmassaker. Herr Pyros macht sehr gute Fotos von deren Qualität meine dilettantischen Versuche weit entfernt sind.

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Mit Yukio Mishimas Geständnis einer Maske kam ich bisher nicht zurande, es erschien mir zu geschwätzig, also legte ich es nach den ersten 30 Seiten beiseite. Mag sein, dass sich das später einmal ändert. Dark Waters, die titelgebende Kurzgeschichte von Suzuki ist auch verfilmt worden. Laut meiner Freundin, die mir diese Bücher alle lieh, gibt es eine ziemlich heftige japanische Verfilmung, und laut Klappentext auch eine Hollywood-Version.

Herzlichen Dank für diesen Link - ich war schon gucken.

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