Donnerstag, 12. Mai 2005
Zwei Fremde im Zug
Sie sitzt mir schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges am Fenster. Ihren Begleiter scheint sie für ein bisschen dumm zu halten, jedenfalls klingt ihre Stimme immer etwas herablassend, wenn sie mit ihm redet. Die beiden dürften um die 70 sein, sie sieht aber jünger aus. Unfreiwillig höre ich jedes Wort von ihr, denn sie spricht stets einen Tick zu laut. Egal, was sie sagt, er antwortet mit gleichbleibender Gelassenheit. Irgendwie tut er mir ein bisschen leid, es wirkt so, als könnte er ihr nichts recht machen.

Wann hat das wohl angefangen, dass sie so mit ihm spricht, frage ich mich, während ich versuche, mich auf mein Buch zu konzentrieren. Schleicht sich dieser gereizte Ton mit der Zeit automatisch ein, wenn man nur lange genug zusammen ist? Oder waren die Rollen von Anfang an so verteilt?

Als sie aus dem Speisewagen zurückkehren, ist der Knopf an seinem Jackett locker. Hast Du Nagellack?, will er wissen. Nein, ich doch nicht, ich habe doch keinen Nagellack. - Kleb, vielleicht? Nein, Kleb hätte sie erst recht nicht, mit Kleb würde er sich doch eh nur das Jackett versauen. Entnervt erklärt sie ihm, dass er bloß nicht am Faden ziehen soll. Später im Hotel könne er um Nadel und Faden bitten. Sie beugt sich zu ihm herüber und wickelt das Fadenende um den Knopf. Und wie sie so wickelt und redet, verrutscht ihre Armbanduhr und gibt für einen Moment den Blick frei auf die Tätowierung auf ihrem Handgelenk, blau und leicht verwachsen.
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