Montag, 4. Juli 2005
Der Wind trägt uns hinweg

Et tout va ira bien
Le vent nous portera

- Noir Désir: Vent Nous Portera -

Es waren Enten auf dem Wasser in der Nacht, als der Mann und die Frau auf seiner Seite des Flusses am Ufer saßen. Ein großer Schwarm ließ sich in völliger Stille den Strom hinabtreiben, wie eine riesige, schwarze Öllache. Das Paar, das nie offiziell eins war, war aus der Schwüle zwischen den Häusern hierher gekommen. Es war seine Idee gewesen. Unterwegs, so hatte er gehofft, würde seine schlechte Stimmung vielleicht wieder verfliegen, die ihn von einem Moment auf den anderen ergriffen hatte. Am Wasser war es kühler, Wind war aufgekommen. Die Frau verschränkte ihre bloßen Unterarme.

Frierst Du?, fragte er.
Nur ein bisschen.
Ich kann Dir mein Hemd nicht geben, sagte er mit vorwurfsvollem Unterton.
Ich weiß, entgegnete sie ruhig. Das habe ich auch nicht erwartet.
Stumm sahen sie aufs dunkle Wasser, auf dem die Enten herabtrieben.
Du hast mich heute Morgen beobachtet, warf er ihr plötzlich vor.
Ach, Quatsch.
Doch, ich habe es genau gesehen.
Wenn, dann hast wohl Du eher mich beobachtet, antwortete sie leichthin.

Seine Stimmung wurde immer aggressiver, er begann, ihr Vorhaltungen wegen der Nacht zuvor zu machen - gerade sie müsste doch etwas von Mystik verstehen. Sie sah nur auf das Wasser, ob dort vielleicht noch mehr Enten herumschwämmen und schwieg. Sie spürte, dass er die Wahrheit ahnte. Ewige Männerangst. Warum ihn also mit der Gewissheit kränken. Stumm summte sie eine Melodie in ihrem Kopf. Keine Enten zu sehen. Sie schaute auf die Lichter am anderen Ufer. Der warme Wind fuhr in Böen durch die Bäume, in der Ferne gab es ein Wetterleuchten.

Der Sommer geht heute zu Ende, sagte er zu ihr. Es wird jetzt nicht mehr so heiß werden. Warm vielleicht, aber nicht mehr heiß. Sie nickte.
Hier, zieh das an. Seine Stimme klang weich, als er ihr unvermittelt sein Hemd reichte, das er über dem T-shirt trug. Dann sprach er von jenem Herbst vor vier Jahren, wenige Monate nach ihrer ersten Begegnung. Im Spätsommer war sein Kind zur Welt gekommen, da war er noch nicht ganz 21. Sie hatten es erst nach der Trennung gezeugt. Ein Anruf seiner Mutter - Du hast einen Sohn -, die Niedergeschlagenheit in ihrer Stimme, sein Ärger über ihren kummervollen Ton und zugleich sein alles überwältigendes Glücksgefühl. Das war der Abend, als die Krankheit allmählich von ihm Besitz ergriff.

Ich glaubte, ich könnte den Wind lenken. Ich befahl, und er musste folgen. Ich musste nur die Hand bewegen, um den Wind zu dirigieren. Er bewegte die Arme mit derselben ruhigen, eleganten Art, wie sie ihn später einmal ein Orchester leiten sehen würde.

Am Anfang habe ich es niemandem gesagt. Erst im November, mein Bruder kam zu mir ins Zimmer, da habe ich ihm gezeigt, was ich konnte. Jetzt wird er in diesen Baum fahren, dann in den Busch da. Und der Wind tat es.
Was hat Dein Bruder gesagt?
Er hat mir nicht geglaubt.
Und dann?
Noch in derselben Nacht habe ich zugestimmt, in die Klinik zu gehen. Ich habe ja irgendwie schon gewusst, dass man den Wind nicht lenken kann. Dort haben sie mich dann gefesselt und mir diese Spritze gegeben, obwohl ausgemacht war, dass sie sowas nicht machen. Ich wollte doch nur eine Zigarette, konnte mich aber nicht verständlich machen. Ich war so unruhig und bin dauernd hin- und hergelaufen, weil ich unbedingt eine Zigarette wollte, aber keine hatte.

Er schwieg für einen Moment. Obwohl, heute bin ich mir nicht sicher, ob ich es nicht doch konnte ... Ich glaube schon.
Den Kopf hatte er in den Nacken gelegt und lauschte auf den Wind, der durch die Bäume am Flussufer fuhr. Die Augen geschlossen, auf dem Gesicht der Ausdruck reinster Verzückung. So ist das also, dachte sie, als sie sein Gesicht betrachtete. So also fühlt es sich an. Und ihr wurde innerlich ganz kalt, da half kein Hemd mehr. Sag etwas, los, sag etwas. Gleich würde er die Balance verlieren, gleich. Der Wind zerrte wieder an den Zweigen. Die ersten Blitze erhellten über ihnen den Himmel.

Konntest Du dem Wind eigentlich auch befehlen zu schweigen?, fragte sie schließlich sanft. Er öffnete die Augen. Auf der anderen Seite des Flusses grollte schon der Donner.
Darum ging es doch gar nicht, entgegnete er ungehalten.
Ich dachte, wer den Wind lenken kann, könnte ihn sicherlich auch stoppen.
Der Blick, mit dem er sie bedachte, war verärgert, aber klar.
Lass uns gehen, es fängt gleich an, sagte er nur.

Am letzten heißen Abend dieses Sommers rannten sie zu zweit durch den Regen.
Der Wind trug sie hinweg. Nichts wurde gut.

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