Sonntag, 12. März 2006
Birds, Beasts and Flowers
Die Gärten meiner Kindheit waren so groß, dass meine Mutter immer einen Teil verwildern ließ. "Wüste Gobi" nannte sie das Stück rechts neben dem Haus, in dem wir von meinem siebten bis zu meinem 18. Lebensjahr wohnten. Ein alter Birnbaum der Sorte "Gute Luise" stand in der Wüste Gobi, so unerreichbar hoch, dass im Herbst alle Früchte immer jenseits der hohen Mauer auf die Straße klatschten. Im Frühling wuchsen auf der Wiese aberhundert Schneeglöckchen, so viele, dass wir Kinder uns immer dicke Sträuße pflücken durften. Am Ende der Wüste standen ein paar blühende Sträucher und eine kleine, japanische Zierkirsche.

Dort beerdigten meine jüngere Schwester und ich nicht nur den ein oder anderen ihrer verstorbenen Hamster, sorgsam eingewickelt in weiche Papierservietten und dann in zart duftende Seifenschachteln gebettet, die wir von unserer Mutter erbaten. Auch alle toten Vögel, die wir fanden, begruben wir dort. Bei denen, die aus dem Nest gefallen waren als sie noch nackt und blind waren, kostete es immer etwas Überwindung, sie mit einem Papiertaschentuch aufzuheben, aber so lange sich noch nicht diese winzigen, scharlachroten Krabbelviecher an die toten Vögel herangemacht hatten, bekamen wir das schon hin. Meistens waren wir ohnehin eher da.

Mit der Seifenschachtel gingen wir dann in die Wüste Gobi, hoben das nächste Grab aus und legten den Vogel zur Ruhe. Die Umrandung des Grabhügels verzierten wir mit Kieselsteinen und kennzeichneten ihn, indem wir ein kleines Kreuz aus Ästchen darauf stellten.

Stets gab uns unsere Mutter ihre Seifenschachteln, und wenn sie keine mehr hatte, suchte sie mit uns andere Schachteln, die als Sarg taugten. Schließlich hatte sie als Flüchtlingskind in jenem Garten in Coburg schon einen Vogelfriedhof angelegt, wenn auch ohne Seifenschachteln. Sie hatte Blumen auf die Gräber gepflanzt und kleine Kreuze. "Wir hatten ja kein Spielzeug mehr", hatte sie uns erzählt. "Also habe ich halt mit meinem Friedhof gespielt. Ich fand ihn so schön, außerdem war es etwas, was ich ganz für mich alleine hatte."

Und dann erzählte sie, wie traurig sie immer war, wenn sie aus der Schule nach Hause kam und ihren kleinen Friedhof zerstört fand. "Jeden Tag habe ich wieder die Kreuze aufgestellt und die Blumen aufs Grab gesetzt, doch jedes Mal machte die wieder jemand kaputt, während ich in der Schule war", sagte sie. "Meine Mutter erklärte mir dann irgendwann, dass es der Nachbar aus dem Erdgeschoss war. Sein einziger Sohn war gefallen, deshalb ertrug er den Anblick der kleinen Kreuze nicht."

Meine Schwester und ich fanden das immer total ungerecht, was konnten denn die armen Vögel dafür, dass sein Sohn tot war.

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Was Sie von sich und Ihrer Mutter schreiben, finde ich sehr rührend. Kinder scheinen ein Gespür für solche schönen, stimmigen Rituale zu haben. Und sie kommen damit manchmal besser über das Schicksal hinweg als Erwachsene, die sich - wie wohl auch dieser Nachbar - innerlich einschließen.

Gestern haben mich meine Söhne ausgefragt, sie waren wirklich sehr besorgt, ob und wie sie sich anstecken könnten. Ich musste Ihnen erklären, dass ihnen sicher nichts passiert, wenn sie sich einfach von toten Tieren fernhalten. Und dachte an die im Garten begrabene Amsel, an die Katze, die ich in der Nacht von einer Landstraße auf die Seite zog (sie lag schon da, als ich vorbeikam), das Kätzchen, das mitten in der Stadt wild torkelnd um die Ecke raste, auf mich zurannte und vor meinen Füßen starb, und das ich später im Garten eines Freundes begraben hatte, mit Gitarre und einem Lied. Und daran, ob die Tiere heute wohl noch jemand anrührte, ob ich es selbst noch täte. Ich bin mir nicht sicher.

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Ja, das wird wohl kaum noch jemand tun. Wer hat jetzt noch Mitleid mit den armen toten Vögeln? Es reicht bei manchen ja nicht einmal mehr für die lebenden.

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so einen schönen sagenumwobenen garten gab es auch in meiner kindheit, man konnte ganze tage dort auf entdeckungsreise gehen. eine schneeglöckchenwiese gab es dort auch, und ich habe da natürlich auch alle meine toten haustiere begraben, jedenfalls die, die nicht gegessen wurden, wie die kaninchen.
am liebsten aber hockte oder legte ich mich stundenlang irgendwo hin, und tauchte in den mikrokosmos ein, in eine blüte, ein blatt uns so. ich glaub das fehlt mir heute, man weiß ja angeblich, wie alles aussieht.
all die gärten, die ich bisher gepflanzt habe, waren dann leider nicht mehr so mythisch wie der alte.

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Meine zwei Hasen und das Kaninchen, das bei uns Asyl fand, haben wir natürlich nicht gegessen, sondern nach deren Ableben ordentlich bestattet. Allerdings an einer anderen Stelle, hinter einer kleinen Mauer, wo der Garten überging in einen Acker, auf dem ein Imker sein Bienenfutter wachsen ließ. Ein paar verwilderte Katzen haben wir auch beerdigt und sogar einmal einen Fasan, den ein Jäger eigens geschossen hatte, um ihn meinem Vater zu Weihnachten zu schenken. Mein Vater ist sehr tierlieb, er rettete Igel von der Straße, Kröten vorm Ertrinken und sogar eine Hornissenkönigin, die sich in sein Arbeitszimmer verflogen und in den Gardinen verheddert hatte. Ich werde nie vergessen, wie er mit dem toten Fasan im Arm da stand, ihn mit den Worten "Was für ein schönes Tier" unablässig streichelte und sich dann dafür bedanken musste. Der Waidmann war wohl etwas enttäuscht, weil wir nicht angesichts des Weihnachtsbratens in Jubel ausgebrochen sind.
Der arme Fasan bekam ein Staatsbegräbnis.

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na, da ging es bei uns wohl deutlich pragmatischer zu - nicht verwunderlich bei einem zugewinnbauernhof, letztendlich. aber das muß ich hier nicht ausführen, will dir ja nicht die wunderschön zarte und jahreszeitlich unglaublich gut-tuende garten-kindheitsgeschichte trüben!

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Die wuchsen auf der Wiese an der Terrasse, Gobi fängt dann rechts um die Ecke an. Von der ist auf dem oberen Foto nur ein Teil zu sehen. Der Baum ist übrigens nicht der Birnbaum, der stand weiter vorne an der Längsseite der Mauer, sondern ein Zwetschgenbaum, den ich doch glatt vergessen hatte. Ausgerechnet.

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Eine schöne Geschichte, die Sie da geschrieben haben.

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merci.

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ich fühle mich jetzt bei all dieser tierliebe ganz schlecht. habe heute ein foto mit rosa lammfell gepostet.

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Nun, Sie werden es dem armen Lamm ja nicht persönlich abgezogen und eingefärbt haben, oder? Außerdem gehe ich davon aus, dass Sie Ihre toten Elefanten auch immer selbst beerdigen.

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klar. ich darf nur nicht verraten wo.
erstens wegen der albernen deutschen gesetze und zweitens, weil die elefanten da auch sehr eigen sind mit ihren friedhöfen. die mystifizieren ja gerne, wie ich selber auch.

glumbo

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Wunderschön, Ihre Geschichte. Ich hab für meine Beerdigungen die Zigarrenschachteln von meinem Vater genommen. Noch heute erinnert mich der Geruch von trockenen, zu lange gelagerten Billig-Zigarren an diese Zeit.

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Dort war der Vogelfriedhof, den meine Mutter als Kind anlegte, gleich rechts neben dem Treppenaufgang zu dem Haus, in dem sie als Flüchtlinge oben unter dem Dach untergekommen waren.

2010 waren meine Eltern, wir drei Schwestern und Kaktus im November einmal für ein Wochenende dort. Sie zeigte uns dabei auch das Haus sowie den Brunnen, ein ganzes Stück die Straße hinunter, an dem sie mit ihrem älteren Bruder immer Wasser holte.

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